Es ist kurz vor Mitternacht, als ich das Reisetagebuch auf den Tisch knalle. Meine Augen brennen und ich habe frenetische Unlust, noch eine einzige Zeile in dieses verdammte Buch zu schreiben. „Schönen Urlaub“ haben sie gesagt. Und keine Ahnung, dass wir fast jeden Tag ein paar hundert Kilometer mit dem Auto abreißen und dazwischen noch jeweils um die 15 Kilometer wandern. Ich entschließe mich gerade, mit dem Sandmann anzustoßen, als ich einen schwarzen Fleck an der Wand entdecke. Eine Spinne. Natürlich. Ich werfe fluchend die Bettdecke weg und hole mein obligatorisches Weinglas, mit dem ich gelegentlich Käfer einfange, um sie artgerecht nach draußen zu transferieren. Als ich es über die Spinne gestülpt habe, fängt sie an, wie irre darin herumzuflitzen. Ich bekomme leichten Ekelpilz, presse das Reisetagebuch unter das Glas und stolpere gegen den Nachttisch. Im selben Moment schlägt die Kirchglocke null Uhr und die kleine Lampe flackert auf, bevor sie erlischt. Ich schlage nach dem Schalter. Das Glas kippt. Es ist finster wie der Arsch eines Bären und die Spinne ist los!
Meine Zeit hier draußen ist ein Abenteuer. Auf so viele verschiedene Weisen. In den vergangenen Wochen haben wir so unfassbar viele verrückte Dinge getan und gesehen, dass ich kaum dazu gekommen bin, sie irgendwo niederzuschreiben. Deshalb gibt es jetzt ein „Best of“ der schönsten und außergewöhnlichsten fünf Erlebnisse vom Tanz im Schnee über einen nassen Hintern auf der River Rafting Tour bis hin zu gigantischen Kunstwerken im Gebirge und superliebem Besuch aus Deutschland.
Von den Tannen hängt Moos wie Lametta. Wurzeln bilden kleine Treppenstufen und über den Trail strömt ein kleiner Fluss. Avalanche Peak im Yellowstone National Park ist immer nur für kurze Zeit im Sommer begehbar, weil es dort bis in den Juli hinein noch schneien kann. Etwa acht Kilometer lang ist der Auf- und Abstieg und geht direkt am Anfang ordentlich in die Knochen. Fast 650 Meter Höhenunterschied liegen zwischen dem Parkplatz und dem Gipfel. Als wir den Wald durchquert haben, stiefel ich mit meinen Converse-Schuhen gleich mal in das nächstbeste Schneefeld. Vielleicht sollte ich doch in richtige Wanderschuhe investieren. Zumindest seit irgendein Fels ein gigantisches Loch in den Stoff gerissen hat. Bevor es aber soweit ist, teste ich offenbar ausgiebig die etwas andere Definition von „Schneeschuhe“.
Kurz vor dem Gipfel tut sich ein Geröllfeld auf. Ich fühle mich, als wäre ich sechs und würde gerade Rollschuhfahren lernen, während ich mich sinnfreier Weise an einem Grashalm festhalte, der natürlich abreißt. Doch die Aussicht ist gigantisch.
„Da hinten sind die Tetons!“, ruft mein Freund, der schon auf der anderen Seite des Abbruchs steht und darauf wartet, dass ich wie ein Elefant auf Eis angeschlittert komme. Die Grand Tetons!
„Heiliger Kuhmist!“, rufe ich, weil ich ihm einen Haufen nützlicher, deutscher Fluchworte beigebracht habe. Als wir um die nächste Ecke biegen, zwiebelt uns ein Orkan ins Gesicht. Bunte Wildblumen trotzen dem harschen Wind. Von hier aus sind es nur noch wenige Meter bis zum Gipfelplateau. Dichte Wolken quellen über den Horizont wie Rauch. Zwischen dem gleißenden Schnee und dem weißen Himmel scheint es kaum einen Unterschied zu geben. Ich stürme in die eiskalten Flocken und fuchtele wild mit den Armen, um meiner Begeisterung über die Verschwommenheit von Himmel und Erde Ausdruck zu verleihen. Wir haben es geschafft!
Dann sitzen wir für eine Weile in einem Steinkegel, der ein wenig vor dem Sturm schützt und futtern ein Peanutbutter-Sandwich. Mein Freund macht immer Peanutbutter-Sandwiches mit Marmelade, wenn er auf den Avalanche Peak steigt. Ich lehne mich an seine Schulter und wir betrachten die riesigen Bergketten um uns herum, die wie Krokodilsrücken aufragen. Die Landschaft ist massiv, beeindruckend und wunderschön.
Als wir wieder hinuntersteigen, sind die Wolken dunkler geworden. Plötzlich donnert es aus dem Nichts heraus heftig. Natürlich sind wir mitten auf dem kahlen Berghang. Wir beschließen spontan, etwas schneller zu gehen, was dazu führt, dass ich abrutschte und mit einem Fuß in einem matschigen Tümpel aus Eis und Sand lande. Meine „Schneeschuhe“ sind endgültig für den Arsch. Ich brauche ein paar Minuten, um das Desaster halbwegs aus den Socken zu kratzen. Als ich den letzten Schnürsenkel straff ziehe, scheint wieder die Sonne. Danke, Avalanche Peak!
Ich habe eine Liste mit Dingen, die ich unbedingt tun möchte, bevor ich die Gänseblümchen von unten sehe. Dabei ignoriere ich gekonnt, dass ein großer Teil davon dazu führen könnte, dass ich die Gänseblümchen eher sehe als geplant. Aber das Leben wäre ja nicht rock’n’roll ohne ein bisschen Risiko.
Im Shoshone National Forst entspringt der 160 Kilometer lange Shoshone River (was für eine Überraschung!), der aus Richtung Yellowstone bis zu den Bighorn Mountains strömt. Mal gemütlich in weiten Windungen, mal wüst in donnerndem Weiß.
„Hoffentlich ist da auch ordentlich was los auf dem Wasser und wir fahren nicht nur so lahm daher“, sorgt sich mein Freund, der seltsamerweise eine Liste mit sehr ähnlichen Dingen führt wie ich. Um sicherzugehen, dass es nicht langweilig wird, beschließen wir, mit unseren obligatorischen Rettungswesten gegeneinander zu rennen und zu schauen, was passiert. Wir prallen wie erwartet wie kleine Michelinmännchen voneinander ab und ernten seltsame Blicke von anderen Anwesenden, die offenbar noch alle Schrauben beisammen haben.
Doch unsere Angst vor einem Segeltörn für Senioren ist unbegründet. Kaum ist das gelbe Gummiboot auf dem Fluss, passieren wir den Mormon Creek, der schäumend in den Shoshone River mündet und ihn mit reißender Strömung aufmischt. Ich versuche, das Paddel so zu halten, dass es aussieht, als würde ich wissen, was ich tue. Dann bricht eine große Welle ins Boot und vier Grad kaltes Wasser strömt von meinem Rücken direkt in meine Hose. Es gibt jetzt angenehmere Momente im Laufe des Lebens, aber bevor ich anfangen kann, zu weinen, donnert mir eine Gallone Gischt ins Gesicht.
Drei Stunden lang fegen wir den Shoshone River hinunter, halten zwischendurch an einem kleinen Strand und betrachten in ruhigen Passagen die rostroten Felsklippen, dunkelgrünen Tannen und scharf geformten Bergspitzen links und rechts des Canyons.
Der Fluss stürzt wie ein zerbrochenes Glasdach ins Tal und reißt alles mit. Die Kraft des Wassers. Die Winzigkeit des Menschen. Erst vor ein paar Tagen ist eine Frau hier ausgerutscht, in die Fluten gestürzt und weiter unten tot angeschwemmt worden. Weil wir denken, wir könnten „mal eben“ ans andere Ufer laufen. Weil Natur unberechenbar ist und es besser weiß. Deshalb gehört für mich zu Abenteuer und Spaß auch immer ausreichend Respekt. Deshalb habe ich die Gänseblümchen bisher trotz unserer Listen immer noch von oben gesehen.
Wir sitzen bei Toyota und schimmeln im Wartebereich rum, während wir hoffen, dass wir uns bei unserer letzten Tour auf einer unbefestigten Straße nicht den halben Unterboden weggerissen haben. Ich blättere durch eine National Geographic und entdecke fantastische Bilder von riesigen Kunstwerken mit schroffen Bergen im Hintergrund. Kunst im Außenraum fand ich schon immer spannend. Wie Landschaft zur Leinwand wird und natürliche Umgebung mit von Menschen geschaffenen Installationen eine ganz neue Bedeutung bekommt. Außerdem habe ich mal zwei Jahre lang in einem Museum gearbeitet. Ich will das Heft gerade weglegen, weil die schönsten Orte sowieso immer am anderen Ende der Welt sind, als ich das Wort Montana lese. Der US-Bundesstaat ist nur einen Katzensprung von uns entfernt. Und die Kunstwerke gehören zum Tippet Rise Art Center, das kurz hinter den Beartooth Mountains liegt. Einen Tag später sind wir da.
Fast 50 Quadratkilometer aus geschwungenen, grünen Hügeln erstrecken sich vom Visitor Center aus. Im Hintergrund teils schneebedeckte Berge und endlose Wiesen mit gelben und violetten Wildblumen. Acht monumentale Kunstwerke liegen darauf verstreut. Unter anderem der Klangfelsen „The Domo“, der aussieht, als hätte er sich gerade wie eine Kontinentalverschiebung aus der Erde emporgehoben. Etwas weiter entfernt schwingt ein riesiges, rotes Pendel langsam im Wind. So langsam, dass man es kaum sehen kann. Also legen wir uns auf die Wiese darunter und betrachten es gegen den blauen Himmel. Besonders beeindruckend ist das „Inverted Portal“, das aus zwei 200 Tonnen schweren Platten besteht, die gegeneinander gelehnt sind und wie der Eingang zu einer anderen Welt wirken. Wind streift an den Wänden entlang, wispert im Gras und eine weite und friedliche Stille spannt sich über die endlose Landschaft.
15 Kilometer Wanderwege verbinden die Kunstwerke miteinander. Man könnte mit einem Shuttlebus hintuckern aber das wäre fast so uncool wie der Segeltörn für Senioren. Deshalb latschen wir die gesamte Strecke durch die Mittagshitze und kommen uns vor wie Christopher Columbus im Death Valley. Am Abend sitzen wir zusammen in einer seltsamen Holzhütte, die aussieht wie ein überdimensionales Xylophon und genießen einfach nur den Moment, die Kunst und dass wir zusammen sind.
„Hast du eine Idee, was wir uns hier in der Nähe ansehen können?“, fragt mein Freund den Toyota-Heini, während meine Nase noch in der National Geographic steckt. Manchmal sind wir wie Schatzjäger. Nicht auf der Suche nach Gold aber auf der Suche nach neuen Orten, die wir entdecken können. Der Typ hat eine Ahnung. Die Bucking Mule Falls in den Bighorn Mountains. Aha. Wasserfälle. Mal wieder. Davon habe ich schon ein oder zwei gesehen, seit ich hier bin. Wir fahren trotzdem hin, denn unsere Philosophie ist: „Es gibt nur einen Weg es herauszufinden: hingehen und es tun!“
Die Straße schlängelt sich durch gelb blühende Felder und entlang von eiförmigen Felsen bis zu einem Parkplatz. Wir erwarten nicht besonders viel, als wir ein paar Kilometer durch einen Wald bis zum markierten Aussichtspunkt wandern. Dann fallen wir kurz vom Glauben ab. Ein tiefer Riss zieht sich durch die Landschaft und öffnet den Blick auf einen gewaltigen Canyon, der sich in Terrassen bis zum Grund entfaltet. Durch einen schroffen Einschnitt in der Felswand stürzen die Bucking Mule Falls rund 150 Meter in die Tiefe. Als hätte jemand eine Kathedrale in den Stein gesprengt. Bläuliches Licht liegt über der Schlucht. „Das ist wie der kleine Bruder des Grand Canyons“, flüstere ich. Wahnsinn.
Wir sollten unser Auto öfter in die Werkstatt bringen.
Ich stehe an einem der Parkplätze nahe des West-Eingangs von Yellowstone und halte nach einem weißen SUV Ausschau. Das ist ungefähr so erfolgreich, wie Ameisen zu zählen. Jedes zweite Auto ist hier groß und weiß. Wir warten auf Sandra und Olaf aus Deutschland. Die beiden haben mal vier Jahre lang in den USA gelebt und sind nun zurück, um die alte Heimat und neue Orte zu entdecken. Als klar war, dass sie „on tour“ sein würden, während ich hier bin, stand die große Yellowstone-Tour natürlich außer Frage. Nachdem mein Freund und ich über die zwei Billionen Sehenswürdigkeiten im Park debattiert haben, steht der Plan: Volle Dröhnung, 5 Uhr aufstehen und bloß keinen Schabernack auslassen!
Als erstes fahren wir zu Grand Prismatic. Die knallbunte Hot Spring ist etwas, das man einmal im Leben gesehen haben muss. Dann einen Abstecher zu Biscuit Basin. Wo es prompt anfängt, zu schütten. Natürlich sind die Regenjacken von Sandra und Olaf im Auto. Während mein Freund losgeht, um Sandras Rucksack zu holen, stehen wir im warmen Dampf eines kleinen Geysirs – wie um das rettende Lagerfeuer. Als die Regenjacken endlich verfügbar sind, gelingt es Sandra auf mysteriöse Weise im fegenden Wind, Olafs Cape zu zerreißen. Drei Personen sind höchst amüsiert über den Schaden, während die vierte Person mit flatterndem Plastik auf den Schultern den Spott erträgt.
Der Tag endet mit einem spektakulären Besuch bei Old Faithful – dem berühmtesten Geysir im Park – und einem Gewitterschauer am Artist Point, der die Felswände in bunte Farben taucht, die Edvard Munch vor Neid hätten schreien lassen.
Der zweite Tag beginnt an den schneeweißen Mammoth Hot Springs. Nach knackigen fünf Stunden Schlaf brennt mir die faszinierende Kalkformation beinahe die Netzhaut weg. Ich erinnere mich daran, wie mein Freund mir 2017 zum ersten Mal all diese Wunder der Natur gezeigt hat. Damals war er bloß ein Typ, bei dem ich auf meiner viermonatigen Soloreise zufällig übernachtet habe. Zwei Jahre später stehe ich mit ihm Hand in Hand am selben Ort und zeige anderen die Highlights des Yellowstone National Parks. Ich beschließe, dass das Leben einen Sprung in der Satellitenschüssel hat. Aber einen schönen.
Zurück geht es durch das Lamar Valley mit seinen großen Bisonherden und über den atemberaubenden Beartooth Highway bis nach Red Lodge in Montana. Sandra hält tapfer dem eisigen Wind auf dem Pass stand und überlebt sogar mit dezenter Höhenangst den dröhnenden Abgrund bei der Fahrt ins Tal. Unterwegs werfen wir Schneebälle, diskutieren geologische Fakten und albern herum. In meinem Gehirn laufen ein paar Drähte heiß, während ich von einer Sekunde auf die andere zwischen Deutsch und Englisch hin- und herwechsele.
Um Mitternacht falle ich ins Bett. Ohne Spinne. Die Nachttischlampe flackert und erlischt.