Lautlos gleitet das Kajak durch das bräunliche, undurchsichtige Wasser. Links und rechts hängen Kletterpflanzen von den knorrigen Bäumen. Es ist heiß und die Luftfeuchtigkeit ist krasser als das bekloppte Kamillen-Dampfbad, das ich bei ätzenden Erkältungen im Kindergarten machen musste.
Obwohl wir mitten im Amazons-Regenwald und zwei Bootsstunden von jeder Straße und Stadt entfernt sind, ist es laut. Zikaden sirren wie Mini-Kreissägen, Papageien streiten sich hoch über unseren Köpfen im Blätterdach, Affen brüllen in der Ferne, Frösche quaken in den Lagunen und ein kleiner Vogel imitiert fallende Wassertropfen. Es ist ein Konzert. Ohne Strom. Ohne Internet und Telefon. In einem der letzten Paradiese der Erde. Natürlich hochgradig gefährdet durch die Krone der Dummheit – den Menschen.
Doch noch gibt es diese Orte im Amazonas, die in eine Welt führen, die bunt, geheimnisvoll und mit tausend leuchtenden Augen in der Nacht zeigt, was für ein unglaublicher Schatz unsere Erde ist.
Wir sind während unseres dreiwöchigen Trips durch Ecuador für fünf Tage im Amazonas-Becken. Ein Erlebnis so intensiv wie der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee. Feurige Sonnenuntergänge, Schwimmen in einer Lagune mit Kaimanen, Nachtwanderungen durch den Dschungel, Brotbacken mit Ureinwohnern. Keine E-Mails, keine Voicemails, keine Benachrichtigungen. Einfach sein. Hier und jetzt.
Ich bohre mein Paddel in den schlickigen Untergrund, über dem mehrere Lagen brauner Blätter wabern. Schweiß und Sonnencreme vermischen sich in meinen Augen zu einem unguten Gebräu. Verdammt, habe ich nicht vor fünf Minuten erst geduscht? Warum fühle ich mich schon wieder wie ein Heckenpenner nach drei Nächten Reeperbahn?
„One, two threeeee!“, ruft unser Guide Luis laut. Alle aus unserer Gruppe stechen gleichzeitig ins flache Wasser. Es ist Trockenzeit und der Flusspegel fällt jeden Tag um fast zwanzig Zentimeter. Unser Kajak steckt fest. Nichts geht mehr. „We gotta get out“, resümiert Luis.
Unsere Mannschaft geht von Bord. Mit kniehohen, schwarzen Gummistiefeln. Fump! Ich stehe im wässrigen Amazonas-Modder.
„Na, sind deine Stiefel dicht?“, witzelt mein Freund, während wir versuchen, das Kajak durch die flache Wasserstelle zu drücken und zu heben. Meine Klamotten kleben an mir wie diese Styropor-Verpackungen in Paketen, die einen einmal statisch aufgeladen durchs ganze Haus verfolgen.
„Bestimmt nicht“, erwidere ich sarkastisch. „Aber hast du vorher geguckt, ob in deinen keine Spinne war?“
Als das Boot wieder in tieferen Gewässern ist, fahren wir weiter. Wir sehen einen Broken Branch Bird, der einfach mal genauso aussieht wie ein vertrockneter Ast. Dann einen kleinen Affen mit gelben Füßen. Eine Schildkröte, die sofort ins Wasser ploppt, als ich die Kamera zücke. Vor allem hört man ganz viel, was man nicht sieht. Obwohl mir gleich vom Paddeln die Arme abfallen und ich wahrscheinlich schlimmer rieche als einer der Hoatzins – auch bekannt als Stinkvögel – ist die Tour ein fantastisches Abenteuer.
In den fünf Tagen unternehmen wir mehr als einmal eine Nachtwanderung durch den Regenwald. Die Geräuschkulisse ist im Dunkeln noch größer als tagsüber, weil viele Tiere nachtaktiv sind.
Luis beleuchtet ein Spinnennetz. Darin mindestens fünfzig Spinnen. „Das ist eine Community“, erklärt er. „Manchmal sind diese Netze 50 Meter breit und haben bis zu 20.000 Spinnen.“
Unsere erste, menschliche Reaktion ist jetzt wahrscheinlich: „Iiiiih!“ Doch wenn man mal von seiner Couch aufsteht und statt Horrorfilmen über Monster-Krokodile, Gift-Spinnen und Killer-Skorpione die echte Tierwelt besucht, stellt man fest, dass sehr wenige dieser Lebewesen tatsächlich gefährlich, ekelhaft oder toxisch sind. Wir haben uns hinter unseren Türen in unseren Häusern und Städten eine gruselige Fantasiewelt von Tieren geschaffen, die nichts mit der Realität zutun hat. Im Gegenteil. Wisst ihr, welches Lebewesen das gefährlichste im Regenwald ist? Der Mensch, der jagt, abbrennt und vollmüllt. Kann man mal drüber nachdenken.
Vor einer unserer Nachtwanderungen halten wir mitten auf der großen Lagune vor unserer Unterkunft, der fantastischen Bamboo Lodge. Eine Öko-Lodge, die rein aus Bambus gebaut wurde und den wenigen Strom, den sie verbraucht, aus Solarenergie gewinnt.
Wie ein Batik-Tuch breitet sich der rot-lila-orangefarbene Himmel über den schwarzen Silhouetten der Palmen und Mangrovenbäume aus. Farben so leuchtend, wie ich sie noch nie gesehen habe. Schwimm-Zeit!
Das Wasser ist undurchsichtig, der Himmel fast dunkel und es liegt ein pinkes Glitzern auf den Wellen. In den Seitenarmen der Lagune baden Kaimane. Die haben aber keinen Bock auf Menschen und verziehen sich, sobald sie uns sehen oder hören. Ich strecke meine Arme aus uns lasse mich treiben. Dümpeln in der blauen Stunde im Amazonas. Magisch!
Gegen Ende unseres Trips besuchen wir den Siona-Stamm in Puerto Bolivar. Das Dorf ist Lebensort einer Gruppe von Ureinwohnern. Immer mehr Dörfer entstehen mitten im Amazonas. „Wenn ihr den Fluss weiter runterfahren würdet, würdet ihr ganze Städte finden“, erklärt Luis vielsagend.
Wir laufen über Holzplanken vom Boot in die Community. Genau wie an unserer zwei Stunden entfernten Lodge gibt es hier kein Internet, kein Telefon und nur Solarstrom. Wir treffen eine der Sionas, Gladys. Sie führt uns zu ihrem Garten, in dem Yucca-Pflanzen wachsen. Aus den Wurzeln wollen wir heute zusammen Brot backen.
„Wenn jemand ins Krankenhaus muss, kontaktieren wir über Radio einen Ranger. Dann kommt ein Boot und die Fahrt dauert zwanzig Minuten“, sagt sie, während sie ein großes Messer schwenkt und die Pflanze mit kraftvollen, präzisen Schnitten zerteilt. Keine Ahnung, ob ich Streit mit ihr möchte und ihr danach nachts im Dschungel begegnen will.
Unser Guide Luis übersetzt, denn jeder einzelne Stamm hat seine eigene Sprache. Für uns, die in Deutschland für jeden Scheißdreck in eine der 5000 Apotheken um die Ecke rennen, klingt das weit entfernte Krankenhaus beunruhigend. Doch die Menschen hier draußen haben ein unglaubliches Wissen über die Heilkraft der Natur. Pflanzen gegen Entzündungen, Krämpfe, Vergiftungen, Schnittwunden, Fieber,… Dinge, die wir längst vergessen haben, weil wir uns zu weit entfernt haben von allem. Einen Herzinfarkt möchte ich trotzdem nicht bekommen.
Nachdem Gladys die Wurzeln ausgegraben hat, pflanzt sie mit den Überresten des Baums direkt eine neue Pflanze. In ein paar Wochen hat sie wieder einen Yucca-Baum. Ich muss an das ganze PR-Gescheiße denken, das große Unternehmen oft sehr fadenscheinig zum Thema Nachhaltigkeit fahren. Wenn die Stammesleute nicht genau das täglich machen würden, hätten sie morgen nichts mehr zu essen. Wer nimmt, muss geben, sonst ist nichts mehr da. Etwas, das wir dringend wieder verstehen müssen. So einfach, so wahr, so plakativ in diesem Moment.
Aus den Wurzeln stellen wir ein Pulver her, das getrocknet und dann über Feuer zu einer Brotscheibe gebacken wird. Ohne Salz, Zucker oder Pfeffer. Schmeckt richtig gut!
Wie oft ich in diesen Tagen meine Mails, Instagram oder WhatsApp vermisst habe? Gar nicht. Es war ehrlich gesagt eine Erleichterung, nichts davon sehen zu können oder zu müssen. Langfristig würde mir natürlich der Kontakt zu Familie und Freunden fehlen und ich könnte auch meinen Job als digitale Nomadin nicht ausüben, was ultimativ meine Einnahmequelle und die Finanzierung solcher Reisen stoppen würde.
Doch als wir nach fünf Tagen zurück in die Zivilisation kehren, ist mein Bedürfnis, auf mein Handy zu schauen, nicht groß.
Groß war das, was wir im Amazonas erleben durften. Großartig. Für den Rest unseres Lebens.