3 Uhr. Nachts. Der Mond scheint mir romantisch in die Fresse und ich klicke nervös auf „FlightAware“ herum, um herauszufinden, wo genau sich das Flugzeug von meinem Freund gerade befindet. Natürlich immer noch mitten über dem Atlantik. Wie vor 5 Minuten und vor 10 Minuten und vor 15 Minuten. Menschen tun verrückte Dinge, wenn sie Schmetterlinge im Kopf haben. Ich esse einen Butterkeks und lege mich wieder hin. Anderthalb Stunden später geht der Wecker. Meine Augen brennen wie Feuer und mein rechter Fuß ist eingeschlafen. Egal. Ich hüpfe mit einem breiten Grinsen in die Küche und verschütte erstmal einen halben Liter Wasser beim Versuch, Tee aufzusetzen. Über dem gepackten Koffer schweben drei Heliumballons. Bereit dazu, meinen Lieblingsmenschen am Flughafen in Amsterdam Schiphol zu überraschen. Das überwältigt mich dermaßen, dass ich spontan das Küchenfenster aufreiße und „AMSTERDAM!“ in die Nachbarschaft brülle. Wissen die gleich mal Bescheid! Dann werfe ich es wieder zu, lache albern und fühle mich, als wäre ich 15 und auf dem Weg zu meinem ersten Date.
Zwei Wochen werden wir gemeinsam durch Europa reisen. Über zwei Monate haben wir darauf gewartet. Amsterdam, Zandvoort, Brüssel, Kopenhagen und Deutschland. Es folgt Teil Eins der Geschichte von der Unendlichkeit. Zwischen Flughafen-Amok, brandendem Meer, Abenteuer und Spinnerei.
Über eine Stunde Zeit habe ich noch, bis mein Freund landet. Und noch 13 Minuten bis zum Flughafen. Brillant! Ich donnere mit 120 Stundenkilometern über die holländische Autobahn und versuche nebenbei, eine winzige Tablette in der Mitte durchzubrechen, weil ich sie immer genau um diese Uhrzeit nehmen muss. Kurz schaue ich in den Rückspiegel, sehe aber eh nichts wegen der ganzen Luftballons. Ich fühle mich großartig und so, als hätte ich alles im Griff. Habe ich auch. Bis mein uraltes und update-loses Navi auf einmal beschließt, dass es sämtliche Straßen rund um den Flughafen nicht kennt. Ich gerate etwas ins Schwitzen und fahre prompt an der richtigen Abfahrt vorbei. Und aus Sympathie an der nächsten auch noch. Bevor ich irgendwo in der totalen Pampa strande, wo nicht mal mehr ein Hinweisschild auf den Airport zu sehen ist. Verdammt. Ich habe mal eben 25 Minuten verloren. Und keine blasse Ahnung, wo ich bin. Ich stelle erstmal die Heizung ab und versuche, zu wenden. Auf der Landstraße – nicht auf der Autobahn! Es klappt. Kurz sehe ich sogar schon einige Flugzeuge. Bevor ich erneut an der richtigen Abfahrt vorbeischottere. „Was ist das denn für eine Scheiße!“ schnauze ich das Navi an, das mir aber nur zeigt, dass ich mich auf einer grünen Wiese befinde und alle zwei Sekunden versucht, die Route neu zu berechnen.
Ich halte wieder an und versuche es mit Google Maps auf dem Handy. Es klappt mäßig. Inzwischen habe ich 45 Minuten vertrödelt, bin komplett verschwitzt und sehe meine Luftballon-Überraschung davonfliegen. Irgendwann komme ich tatsächlich wieder an meinem Ausgangspunkt vorbei, an dem ich es das erste Mal vermasselt habe. Ich zimmere über eine Sperrfläche und befinde mich plötzlich auf einem irre großen Flughafengelände. Dann verplempere ich weitere 15 Minuten, um das richtige Parkhaus zu finden. Inzwischen ist es 9.18 Uhr. Mein Freund kommt um exakt 9.20 Uhr an. Wie kann man bitte eine ganze Stunde lang rund um einen internationalen Flughafen fahren, ohne ihn zu finden!? Ich beschließe, das später zu erörtern. Vermutlich lautet die Antwort, dass ich blöd bin.
Meine Nerven fahren Schlittschuh, als ich die Autotür zuschmeiße, mir die Luftballons greife und losrenne. Unter Schnappatmung rufe ich etwa 135 Mal „Sorry!“, während ich völlig fremde Leute wegboxe.
Endlich bin ich da. „Flug aus Chicago O’Hare, Ankunftshalle 3“ teilen mir die Monitore informativ mit. Ich bin gerade noch so in der Lage, der großen DREI auf den Schildern zu folgen. Meine Klamotten kleben an meinem Körper, meine Haare sehen aus wie Scheiße und mein Gesicht brennt. Genauso hatte ich mir das vorgestellt!
Dann warte ich fast 30 Minuten. Weil das Flugzeug spontan bei Halle 1 gelandet ist. Als wir uns endlich finden, ist aber plötzlich alles egal. „Ich stinke wie ein Iltis“, sage ich, nachdem wir uns drei Jahre lang einfach nur umarmt haben. Er sieht mich an, grinst und sagt: „Ich liebe dich.“
Am Abend hat sich mein Geisteszustand soweit normalisiert, dass wir halbwegs gleich-bescheuert – ich mit Flughafen-Nachwehen und er mit Jetlag – durch das abendliche Amsterdam stolpern. Spontan beschließen wir, eine Grachtenfahrt zu machen. Für mich hatte diese Stadt mit ihren pittoresken Kanälen und historischen Brücken schon immer den Charme eines nördlichen Venedigs.
Wir erwischen genau die blaue Stunde zwischen Sonnenuntergang und Nacht, als das Boot ablegt. Auf dem Wasser glitzern in gebrochenen Formen die Fassaden der windschiefen Häuser. Die vorhanglosen Fenster lassen unsere neugierigen Blicke in Designerwohnungen, gemütliche Lesezimmer und hell erleuchtete Küchen wandern. Fast lautlos gleitet das Schiff unter Brücken hindurch, deren Bögen mit warm strahlenden Glühbirnen verziert sind. Nach so vielen Wochen der Vorfreude und Planung verspüre ich auf einmal einen großen inneren Frieden. Nachdem wir ungefähr neun Stunden lang am Stück geredet haben, halten wir endlich mal unsere Klappen und schweigen. So wie man nur mit ganz wenigen Menschen auf der Welt schweigen kann.
In den kommenden Tagen spitzen wir das Rijksmuseum und das Van Gogh Museum aus. Wir eskalieren ein bisschen, als wir die ganzen Originale sehen und sind etliche Stunden zwischen Meisterwerken und Diskussionen über Schatten, Farben und Kompositionen verschollen. Weil ich schon zwei Mal in Amsterdam war, weiß ich, dass im Durchgang des Gebäudes vom Rijksmuseum manchmal ein kleines Straßenorchester spielt. Und da mein Freund nicht nur eine gewisse Leidenschaft für Bob Dylan und Johnny Cash hat, sondern auch klassische Musik mag, machen wir einen Abstecher dorthin. Es ist schweinemäßig kalt und windig, aber unglaublich stimmungsvoll. Abgesehen davon haben wir eine leicht unterschiedliche Auffassung darüber, was „schweinemäßig kalt“ ist. Über das Ende meiner Komfortzone bei zehn Grad lacht der gemeine Rocky-Mountain-Bewohner nämlich nur müde. Sofern da kein erhebliches Minus vor der Temperatur steht, kann man noch ein T-Shirt anziehen. Oder so.
Am letzten Tag in Amsterdam stellen wir schließlich noch in einem hochwissenschaftlichen Experiment fest, dass es vermutlich keine gute Idee wäre, in Yellowstone Gras zu rauchen. Den genauen Grund habe ich vergessen. Aber er war lustig.
Was ich schon immer mal machen wollte: Im Herbst oder Winter an die Nordsee fahren und mich einem wilden Sturm aus brachialen Wellen, pfefferndem Sand und gewaltigen Wolken hingeben. Echt jetzt. Passend dazu schüttet es auf unserem Weg nach Zandvoort aus Eimern. Auf dem Parkplatz am Nationalpark Zuid Kennemerland schauen wir uns an. Dann sagen wir gleichzeitig „Who cares!“, kramen unsere Regenjacken raus (in der ich aussehe wie Kermit der Frosch) und stiefeln drei Stunden lang durch duftende, dunkelgrüne Kiefernwälder und sandige Dünen. Entlang von verschlungenen Märchenbäumen, moosbedeckten Wiesen und Pfaden, die mit zerbrochenen Muscheln bedeckt sind. Das kalte Regenwasser rinnt über unsere Gesichter und Hände. Egal, wie viele spannende Städte wir noch sehen werden – im Herzen sind wir Naturmenschen. Frei, abenteuerlustig, neugierig und ein bisschen bekloppt. Oder wie mein Freund sagt: „Sarah, you are a total nutcase. And that’s why I love you.“
In Zandvoort fliegen uns fast die Holzbretter der Strandbuden um die Ohren. Bei Windstärke 50 Millionen kämpfen wir uns durch den Sandsturm in ein gemütliches Café mit Meerblick und ordern erstmal einen Liter heiße Schokolade. Dann verbrennen wir uns beinahe die Finger, während wir Blödsinn mit der Kerze machen. Ich bekomme das Gefühl, dass die Restaurant-Menschen immer ganz froh sind, wenn wir wieder gehen. Meistens fragen wir ausdrücklich nach dem billigsten Wein, verschütten ihn dann, schießen mysteriöserweise Essen über den Tisch und lachen ziemlich viel und ziemlich laut. Außerdem sind wir vermutlich das romantische Pärchen, das jeder Single am Valentinstag erschießen will.
Am nächsten Tag reißt der Himmel auf und setzt die braun-weiße Gischt des Meeres strahlend in Szene. Noch nie habe ich die Nordsee so aufgewühlt gesehen. Wir stürmen wie kleine Kinder den Strand hinunter, wo ich aus geheimnisvollen Gründen meine Schuhe wegwerfe und barfuß in das eiskalte Wasser renne. „Warte, ich mache ein Foto!“, schreit mein Freund durch den tosenden Orkan. Danach hantiert er ewig mit seinem Handy herum, bis ich vom Knie abwärts gelähmt bin.
Auf dem Rückweg finden wir zwei Schaukeln. Obwohl wir zusammen vermutlich nur ungefähr 100 Kilo wiegen, schaffen wir es irgendwie, sie halb aus der Verankerung zu reißen. „Lass mal abhauen!“, schreie ich unauffällig diplomatisch.
Danach kaufen wir in einem Supermarkt an der Promenade Wein mit Korken ohne Korkenzieher und sind kurz davor, die Flasche mit einem Handtuch zu umwickeln und gegen die Zimmerwand im Hotel zu schlagen. „Wenn es schiefgeht, sagen wir einfach, das war schon so!“, erklärt mein Freund fröhlich, als ich skeptisch gucke.
„Oder wir sagen, es ist Blut“, schlage ich schlauerweise vor.
Dann besinnen wir uns und kaufen einfach eine zweite Flasche ohne Korken.
„Haben wir Gläser?“, frage ich ernsthaft. Wir schauen uns in dem spartanischen Zimmer um. Dann lachen wir. Als ob! Gar nichts haben wir. Gar nichts und doch alles. Ich schwenke die Flasche wie ein Guru und blicke in die blau-grauen Augen mit den goldenen Sprenkeln, die mich an die Hot Springs im West Thumb Geyser Basin in Yellowstone erinnern. „We are total nutcases, aren’t we?“, sage ich leise.
Was wir Verrücktes an den folgenden Tagen unseres Europa Road Trips in Brüssel, Kopenhagen und Deutschland erlebt haben,
könnt ihr im zweiten Teil des Reiseberichts nachlesen. Es geht um Waffeln auf der Straße, Ärgernis im
Jazz-Café und wie mein Freund am Jüngsten Gericht meine bekloppte Familie kennengelernt hat.