Ganz langsam zieht die Nacht herein, während ich durch das Flugzeugfenster auf die Landebahn schaue. Eigentlich sollten wir schon da sein. Dabei sind wir noch nicht mal losgeflogen. Mein Gesicht fühlt sich an wie ein Schwamm, weil ich seit 16 Stunden eine Maske aufhabe, das eingeschweißte Käsebrötchen auf meinem Tablett sieht aus, als würde es gleich weglaufen und ich sitze zum zweiten Mal an diesem Tag in einem kaputten Flugzeug.
Ich bin unterwegs nach Aruba. Man könnte jetzt denken, ich habe einen an der Waffel, dass ich ausgerechnet jetzt in die Karibik fliegen muss, um mich in die Sonne zu knallen. So einfach ist es allerdings nicht. Ist es im Leben selten. Denn ich mache das nur, um endlich zu meinem Freund in die USA einreisen zu können. Seit März sind die Grenzen der Vereinigten Staaten wegen Corona für Europäer dicht. Ausnahmen für Partner und Familie gibt es nicht. War jetzt vom Orangengesicht im Weißen Haus auch nicht unbedingt erwartbar. Nachdem ich meinen Freund nach vier Monaten Zwangstrennung im August für drei Wochen im Drittland Kroatien gesehen habe, will ich jetzt Nägel mit Köpfen machen. Denn es reicht mir mit diesen Zwischenlösungen. Das entscheidende Schlupfloch ist, dass die Einreise nicht an der Nationalität hängt, sondern an dem Ort, an dem man sich in den letzten 14 Tagen aufgehalten hat. Bin ich für 14 Tage aus dem Schengenraum raus, darf ich in die USA fliegen. So zumindest haben es bereits einige Paare erfolgreich vorgemacht.
Wegen der immer noch weltweiten Grenzschließungen, gab es jedoch nur wenige Länder, in die ich überhaupt für diese 14 Tage einreisen konnte. Eines davon Aruba. Wie schrecklich. 14 Tage in der Karibik! Was wirklich schrecklich war, war allerdings meine Anreise. Davon jetzt mehr.
5:00: Der Wecker klingelt. Es macht es nicht mal besser, dass der Weckton ein Song von Simon & Garfunkel ist. Ich bin tot. Nicht meine Uhrzeit. Geistig umnachtet schleiche ich in die Küche, wo der Laserstrahl der Deckenlampe in meine Augen trifft, während ich mir das letzte Stück Kuchen aus dem Kühlschrank nehme.
6:00: Mein Papa kommt auf drei Reifen um die Ecke gedüst, um mich zum Bahnhof zu bringen. Er ist sentimental. Ich bin nervös. Wegen des 12-stündigen Flugs, wegen der Einreise, ob ich meinen Stempel bekomme, ob mein negativer Coronatest anerkannt wird.
6:13: Der Zug tuckert von Wuppertal nach Amsterdam. Natürlich mit drei Umstiegen. Ich habe nur dünne Klamotten an, weil es auf Aruba 32 Grad warm ist. Immer. Jeden Tag im ganzen Jahr. In Düsseldorf nicht so. Ich stehe mit klappernden Zähnen am Gleis, während jemand im gelben Raucherviereck raucht und der Scheiß zu mir rüberzieht, weil der Rauch nicht weiß, dass er gefälligst in seinem gelben Raucherviereck zu bleiben hat.
9:40: Der Zug schifft pünktlich am Flughafen Amsterdam Schiphol ein. Ich fliege von Amsterdam aus, weil Aruba mal eine niederländische Kolonie war und es immer noch günstige Flugverbindungen zwischen den beiden Ländern gibt, auch wenn Aruba inzwischen autonom ist. Ich muss daran denken, meine Wasserflasche vor der Security zu leeren.
9:50: Ich renne über diesen verkackten Riesenflughafen und folge den Pfeilen zur Security.
10:05: Ich renne immer noch über diesen verkackten Riesenflughafen und folge den Pfeilen zur Security. Wo haben sie die aufgebaut? In Nepal? Werde ich es ohne Reinhold Messners Hilfe schaffen, sie vor Weihnachten zu erreichen?
10:15: Ich bin an der Security und will gerade mal wieder meine ganzen Laptops, Handys und Kameras auspacken, als der Beamte sagt, dass sie jetzt neue Maschinen haben und ich das beim Scan alles einfach im Rucksack lassen kann. Ich gucke erst wie eine Kuh und dann wie eine Grinsekatze.
10:17: Meine Tasche piepst und wird ein zweites Mal durchleuchtet. Der Security-Typ zieht meine Wasserflasche hervor. Ich Esel. Doch anstatt, dass ich meine Flasche wegwerfen muss, schmeißt er sie in eine seltsame Trommel, nimmt sie wieder heraus und sagt: „Ja, ist nachweislich nur Wasser, Sie können die Flasche mitnehmen und gehen.“ Fancy! Vielleicht ist der Flughafen doch nicht so scheiße.
10:25: Ich laufe über 200 Gänge auf dem Weg zum Gate in Terminal G.
10:35: Ich laufe über 200 Gänge auf dem Weg zum Gate in Terminal G. Mir ist heiß.
10:45: Ich bin da. Um 12 Uhr geht der Flug. Gleich ist Boarding.
11:30: Mein Freund fragt mich, ob ich nicht schon an Bord sein müsste. Das frage ich mich auch. Dann tritt die Stewardess ans Mikro: „Das Boarding verzögert sich ein bisschen, weil im Flugzeug die Klimaanlage kaputt ist. Wir arbeiten daran.“
11:35: Mir fällt auf dem Weg zum Mülleimer ein Stück Bananenschale hin. Hoffentlich rutscht keiner darauf aus. Und falls ja, dann vielleicht dieses schreiende Kind, das mir jetzt schon auf den Sack geht und gleich 12 Stunden im gleichen Flugzeug sitzt wie ich.
11:45: Die Stewardess berichtet, dass die Klimaanlage leider nicht repariert werden kann. Sie würden jetzt versuchen, ein ganz neues Flugzeug zu beschaffen. Das wäre aber frühestens in zwei Stunden da und würde außerdem am anderen Ende des Flughafens an Terminal D auf uns warten. Eine Karawane setzt sich in Bewegung. Ich beschließe, auf dem siebenstündigen Marsch quer durch das Gebäude bei McDonalds anzuhalten und mir etwas einzuwerfen, das auf dem Werbeplakat total gesund aussieht aber in Wahrheit aus 90 Prozent Fett besteht.
12:30: Ich sitze an Terminal D. Das Laufband nebenan sagt alle fünf Minuten automatisch „Mind the Gap“. Ich fühle mich sehr britisch.
13:15: Ich sitze immer noch an Terminal D. Mein Gesicht fühlt sich unter der Maske inzwischen leicht siffig an. Mein Hintern tut weh, obwohl ich noch keinen Meter geflogen bin. Das Laufband nervt. Ich fühle mich, als würde ich am liebsten Sekundenkleber reinschütten wollen, damit es endlich aufhört „Mind the Gap“ zu sagen.
13:45: Wir boarden. Tatsächlich. Das Flugzeug ist knallvoll. „Halten Sie wenn möglich Abstand“ sagt die Kabinencrew über Lautsprecher. Direkt neben mich setzt sich eine unfreundliche Holländerin, zu der ich sehr gern zehn Kilometer Abstand hätte. Nachdem sie sich erst mit mir über ihre Decke streiten will, die auf meinem Sitz lag, und ich ihr einen Todesblick zugeworfen habe, ist sie auf einmal für den Rest des Fluges verschwunden. Ich hoffe, sie ist geplatzt.
14:00 Wir heben ab. Dröhnend donnert die Todesdrohne über die Landebahn hinweg und ich klammere mich mal wieder mit weißen Händen an die Sitzlehne. Flugangst ist schon scheiße. Vor allem, wenn man in einem so fetten Flugzeug sitzt, dass man weiß, dass es unmöglich ist, dass es fliegen kann! Das ist, als würde am Himmel plötzlich ein Wal entlangschweben.
16:00 Immer noch 7 Stunden bis zum Zwischenstopp auf St. Maarten. Ich schaue „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ und wundere mich über Zeit und Raum. Wie wäre es, wenn man alt geboren würde, um dann jünger zu werden und schließlich als Kind zu sterben? Als Turbulenzen kommen, frage ich mich generell, wie es wäre, zu sterben.
17:00 Ich tue so, als würde ich versuchen, zu schlafen. Klappt in etwa so gut wie einem Kaninchen das Dreiradfahren beizubringen. Danach beschließe ich, zu arbeiten. Ich habe mir am Abend zuvor ein paar Sachen offline heruntergeladen und kann jetzt ein paar Stunden an Texten arbeiten. Schadenfroher Mittelfinger an alte Zeiten, als ich mit Stempelkarte ins Büro musste, um meine Kröten zu verdienen.
20:00: Nur noch zweieinhalb Stunden bis St. Maarten. Ich verschlucke mich beim Trinken an Wasser und ersticke beinahe bei dem Versuch, nicht zu husten, weil sonst alle denken, ich hätte Corona.
22:25: Wir müssten gleich da sein. Wieso sind wir immer noch über Wasser? Wo ist die Landebahn?
22:27: Das Flugzeug ist so tief, dass ich jede Welle einzeln sehe.
22:29: Wir setzen in einer Minute auf und ich sehe unter Wasser die Seeigel am Abendbrottisch sitzen.
22:30: Die Insel erscheint unter dem Flugzeugbauch, der fast den Boden berührt. Wir fegen in drei Metern Höhe über einen kleinen Strand und setzen sofort auf. Ich habe Puls. Der Pilot bremst heftig und bringt die Riesenmaschine in unfassbar kurzer Zeit zum Stillstand. Was auch gut ist, denn nach knapp zweitausend Metern ist die Landebahn auch schon wieder zu Ende. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht weiß: Der Flughafen von St. Maarten gehört zu den gefährlichsten der Welt, weil die Landebahn so kurz ist. Große Flieger wie meiner müssen auf dem Weg zurück nach Europa auf Inseln wie Aruba oder Curacao zwischenlanden, weil sie in St. Maarten aufgrund des Gewichts nicht volltanken dürfen – sie würden es bei dem kurzen Runway mit vollem Tank nicht rechtzeitig nach oben schaffen und in die Hügel knallen.
22:40: Einige Leute steigen aus, ein Haufen neuer kommt hinzu. Das Flugzeug wird noch voller als vorher. Alle Weiterreisenden nach Aruba müssen an Bord bleiben. Weil die Maschinen aus sind, ist auch die Klimaanlage nicht in Betrieb. Draußen sind 33 Grad und 85 Prozent Luftfeuchtigkeit.
23:00: Wie lange dauert denn dieses scheiß Boarding der neuen Passagiere? Inzwischen sind locker 30 Grad im Flugzeug. Meine Maske fühlt sich an wie Leberwurstpelle. Alles klebt.
23:20: Ich muss fast lachen, wenn ich daran denke, dass ich eigentlich gleich hätte auf Aruba landen sollen. Es ist 17:20 Uhr Ortszeit (minus 5 Stunden zu Deutschland) und langsam wird es etwas dämmrig draußen. Wir stehen immer noch in der Hitze auf St. Maarten herum. Der Typ neben mir ölt genauso wie ich. Die Luft ist zum Schneiden. Ach ja, da war ja auch noch Corona.
23:25: Der Pilot meldet sich: „Wir haben ein kleines Problem. Die Maschine startet nicht mehr“, sagt er etwas bekümmert. Echt jetzt? Haben die über Nacht das Licht angelassen oder was? „Wir haben ein externes Startgerät bekommen. Aber das war… auch kaputt.“ Ich pruste in meine Maske, während mein Gesicht langsam Bläschen wirft. Dann nehme ich den letzten Schluck aus meiner Wasserflasche. Was ist das denn hier? KLM oder Schott Airlines?
23:45: Der Passagier neben mir scheint in eine Art Wachkoma gefallen zu sein. Die Sonne geht unter. Ich spüre meinen Rücken nicht mehr. Es ist so heiß, dass ich das Gefühl habe, ich glibbere gleich einfach an meinem Sitz hinunter auf den Boden. Können die Säcke vielleicht mal Wasser bringen?
23:50: Ich schaue aus dem Fenster, als plötzlich dunkler Rauch vom rechten Triebwerk aufsteigt. Ab sofort ist es vorbei. Ich bin im Panik-Modus. Die Turbine brennt, wir werden alle sterben.
23:55: Der Rauch verzieht sich. Der Pilot melde sich verhalten: „Wir haben jetzt ein zweites, externes Startgerät gefunden. Aber die Boden-Crew weiß nicht, wie man es bedient.“ Dann erklärt er, wo der Rauch herkam und warum das überhaupt nicht gefährlich war. Ich kriege einen Herzinfarkt. „Wir rufen jetzt in Amsterdam an. Vielleicht wissen die, wie das Gerät funktioniert.“
00:05: Der Pilot meldet sich. Kleinlaut. „Wir rufen jetzt unseren Chefmechaniker an. Der ist schon im Feierabend und wohnt am anderen Ende der Insel. Er sollte in einer halben Stunde da sein… Er ist unsere letzte Hoffnung.“ Es ist klar, dass um diese Uhrzeit und auf dieser Insel kein drittes Ersatzflugzeug in der Ecke steht. Ich hoffe einfach nur noch, dass ich vor Mitternacht Karibik-Zeit meinen Stempel in den Pass bekomme, weil erst ab da meine 14 Tage zählen.
00:15: Endlich gibt es Wasser. Ich fühle mich wie in der Wüste Negev. Vielleicht gehe ich noch vor der Turbine in Flammen auf.
00:30: Das Flugzeug springt an und rollt über die Landebahn. Ich bin so fix und foxi, dass ich meinem Freund eine Art Abschiedsbotschaft schreibe und dann meine Kopfhörer aufsetze. Was würde ich hören wollen, falls dieses Ding jetzt abstürzt? Etwas Dramatisches, etwas Wehmütiges? Dann wähle ich die Beach Boys. Zur Hölle. Man muss fröhlich sterben.
02:00: Ich bin nicht gestorben. Das Flugzeug setzt in Aruba auf. Es ist stockdunkel. Ich wanke zur Zollkontrolle. Jetzt kommen noch 500 Fragen und Papiere auf mich zu.
02:05: Die Dame an der Immigration nimmt meinen Pass, schaut mich an, donnert den Stempel rein und sagt „Willkommen auf Aruba!“ Ich gehe fast noch einmal rückwärts, um sie zu fragen, ob das jetzt wirklich alles war. So krass einfach bin ich noch nirgendwo eingereist!
02:30: Ich torkel freudestrunken aus dem Flughafen. Da ich meinen Coronatest und alle anderen Papiere schon zu Hause erledigt hatte, wurde ich einfach durchgewunken. Ohne Quarantäne, ohne Auflagen. Mein Airbnb-Host holt mich mit dem Auto ab. Ich kann nicht glauben, dass ich endlich den Stempel habe und da bin. Im Haus donnere ich unter die Dusche und dann ins Bett.
Wenn schon immer mal jemand wissen wollte, was man für die Liebe tut: Lies einfach alles nochmal.
Lonelyroadlover (Samstag, 17 Oktober 2020 21:12)
Hi Master Pedro,
man muss immer ein gewisses Maß an Wahnsinn halten. Ausrasten hätte in der Tat jetzt wenig gebracht. :D Außer eine Nacht in der Zelle und vermutlich ein weltweites Reiseverbot. Verbot, nicht Warnung. Wird ja aktuell gern verwechselt.
Jedenfalls hat alles geklappt. Wie ich auch meinem Vaddah immer sage: Sieht aus, als wäre ich verrückt, hat aber alles einen Plan.
Und ein bisschen Hollywood ist auch okay.
Grüüüüße!
Sarah
Don Pedro (Samstag, 26 September 2020 17:14)
Sarah, Du arme Sau; es ist wirklich krass, was Du "Liebestrunkene" da auf Dich nimmst. Ich hätte mindestens einen Nervenzusammenbruch mit Amoklauf hingelegt und alles und jeden um mich kaltgemacht. Das wäre aber dann die letzte Aktion in meinem Leben gewesen, vermute ich.
Der Cowboy kann stolz auf Dich sein, dass Du um seinetwegen diese Drecks-Strapazen auf Dich nimmst. Er wird Dich deshalb sicherlich noch ein bisschen triezen.
Bin gespannt, wie der weitere Verlauf in das gelobte Land "UnitedSoziopathenArea" vonstatten lief.
Grüße mir den Cowboy und habt eine relaxte und innige Zeit.
Don Pedro