Ich wollte ja immer mal so richtig campen gehen. In den Bergen in der Wildnis. Mit einem fetten Rucksack, der mich aussehen lässt wie Reinhold Messner. Mit einem Gaskocher unter Sternen, während im Wald der Uhu unheimlich ruft.
Das Einzige, was ich allerdings bisher gemacht habe, ist blöde mit Bier und lauter Musik in einem Billig-Zelt auf einem Festival zu sitzen. Und selbst das ist schon Äonen her.
Also haben mein Freund und ich beschlossen, dass es diesen Herbst Zeit wird, sich mit professioneller Campingausrüstung einzudecken und in die Wildnis von Wyoming auszurücken. Zu Fuß. Mit einem fetten Rucksack, der mich aussehen lässt wie Reinhold Messner.
Damit stehen wir nun vor der kleinen Holzbox am Beginn des Trails, an der man sich registrieren muss, bevor man losgeht. Damit die Ranger später wissen, wo genau wir hingegangen sind und unsere leblosen und von Bären zerfressenen Körper leichter finden können.
Backpacking im wilden Norden der Rocky Mountains ist kein Picknickausflug ins Sauerland.
Das wird mir in dem Moment bewusst, als wir die ersten Meter mit den über zwölf Kilo schweren Rucksäcken gehen und ein Eichhörnchen mit kehligem Rasseln hinter einem toten Baumstamm hervorspringt. Vor uns liegen zehn Kilometer und eine kalte Nacht an einem See. Mit Elchen, Essen im Baum und Blitzen im Berg.
Wir haben eine extraleichte Isomatte, ein extraleichtes Zelt und einen extraleichten Daunenschlafsack. Sogar einen extraleichten und superschnellen Gaskocher. Keine Ahnung, wie sich dieser ganze extraleichte Scheiß so anfühlen kann, als würde ich eine Containerladung Bauschutt in meinem Rucksack herumschleppen. Meine Beine scheinen aufgrund des Gewichts auf einmal aus Beton zu bestehen. Weil mir mein Freund schon wieder acht Seemeilen voraus ist, summe ich schnell „Das Wandern ist des Müllers Lust“ in meinem Kopf und versuche enthusiastisch, mit meinen Betonfüßen aufzuschließen und nicht so auszusehen, als wäre ich der letzte Loser.
Wir wandern hinunter in ein Tal mit einem dunkelblauen Fluss, der sich plätschernd über graue, runde Steine ergießt und wie aufgezwirbeltes Geschenkband zwischen den saftgrünen Wiesen liegt. Dann geht es einen staubigen Hang hinauf, bei dem schnaufe ich wie Jim Knopfs Lokomotive. Verdammter Berg. Können wir nicht am Meer wandern? Leider liegt das nächste Meer 1.500 Kilometer entfernt. Doch so ein Berg hat ja auch immer eine andere Seite. Mit Aussicht. Und so bewundern wir in den nächsten Stunden nicht nur zerklüftete Ebenen, sondern auch einen schmalen Canyon, malerische Spiegelungen in stillen Flussarmen und Gesteinsbrocken in magischen Tierformen, die wie hingewürfelt zwischen dunkelgrünen Tannen liegen.
Kurz bevor wir das Tagesziel und unseren Camp-Spot – die Lost Twin Lakes in den Bighorn Mountains – erreichen, hebt sich eine riesenhafte, dunkle Form von den bläulich schimmernden Büschen vor uns ab. Ich stocke. Ein Bär? Dann bewegt sich die Form und ein massives Geweih erhebt sich. Ein Elch. Nicht ganz so gefährlich, aber deutlich größer als ein Bär. Deutlich größer als in meinem vergammelten Biologie-Buch aus der 7. Klasse. Mein Herz pumpt fünf Gallonen Blut zugleich in meinen Kopf. Gleich hinter dem Elch stehen seine Elch-Frau und sein Elch-Kind. Alle drei starren uns an.
„Was machen wir jetzt?“, flüstere ich und klinge mehr nach Hasenfuß, als nach Messner. Ich meine, hier ist kein Auto, kein Haus und kein Zaun, wo man sich mal eben hinter verstecken könnte. Das ist kein Zoo. Das hier ist echt.
„Wir signalisieren ihnen, dass wir keine Gefahr sind und gehen langsam dran vorbei“, sagt mein Freund, der schon so einige Jahrzehnte Wander- und Wildniserfahrung hat.
Dann macht er Handzeichen und spricht mit den Tieren. Ich denke Das Wandern ist des Müllers Lust und gehe weiträumig um die gesamte Szenerie herum, auch wenn ich dadurch fast in einen kleinen Fluss falle. Kack Müller – der hat bestimmt noch nie einen Elch aus hundert Metern Entfernung gesehen.
Irgendwie kriegen wir es hin, nicht von einem Geweih aufgespießt und vom Elch mit Marshmallows geröstet zu werden und erreichen das finale Plateau.
Wow! Direkt vor uns im Abendlicht schimmert einer der Lost Twin Lakes im Talkessel. Hinter ihm ein Berg, der an der Seite wie abgeschnitten aussieht und um uns herum Busch- und Grasland mit Tannen, zwischen denen ein kleiner Wasserfall plätschert. Das ist das Paradies!
Ich vergesse den Elch, schmeiße den ultraleichten Bauschutt-Rucksack weg und stürme auf einen der Felsen. Dann breite ich meine Arme aus und rufe „Woohooo!“
Von einer Welle Energie ergriffen – über diese Natur, diese Einsamkeit und Weite, die Tiere und die Freiheit und dass wir die ganzen zehn Kilometer geschafft haben – bauen wir das Zelt für die Nacht oberhalb des Sees auf.
Dann sitzen wir mit dem extraleichten und superschnellen Gaskocher auf den Steinen, kochen heiße Schokolade und betrachten einen feurigen Sonnenuntergang, der sich hinter die nun schwarz erscheinenden Tannen und über die goldenen Bergspitzen legt. Genau so soll es sein. Genau so.
Plötzlich schaut mein Freund auf unser Essen – Tupperdosen und Beutel mit gefriergetrocknetem Zeug. Das darf man nämlich hier draußen aufgrund von Bären nicht einfach achtlos herumliegen lassen und auch nicht mit ins Zelt nehmen. Die riechen das und dann gehen sie gleich über zur Hauptspeise Mensch.
Deshalb muss man sein Essen und jegliche anderen Duftstoffe wie Deos oder Cremes in der Wildnis an einem Seil gut verpackt drei bis vier Meter hoch in einen Baum ziehen.
Das kann schon mal eine Weile dauern, bis es klappt, hatte es ermutigend in einem Outdoor-Artikel gestanden, den wir noch am Morgen studiert haben.
Also stehen wir kurz darauf vor einer Tanne und versuchen, unser Essen auf einen der dickeren, hohen Äste zu werfen. Fail. Natürlich fliegt der Beutel mit dem Essen erstmal volles Rohr am Baum vorbei. Dann viel zu tief, dann rutscht er im letzten Moment noch ab und dann hat sich das Seil verheddert. Ich komme mir total bekloppt vor, wenn ich mir vorstelle, dass ein Alien gerade sehen könnte, wie ich frierend im Halbdunkel in einer Thermoleggins mit Schneeflockenmuster versuche, eine Tupperdose mit Nudelsalat in einen Baum zu schleudern. Irgendwann klappt es aber doch.
Gerade, als wir uns ins Zelt verkriechen, fängt es an zu regnen.
„Was für ein Zufall!“, sagt mein Freund und wir mummeln uns in den überraschend warmen und gemütlichen Doppelschlafsack ein.
Leider sind die Regentropfen auch ziemlich laut. Ich lausche. Dann ist Wind. Jedenfalls flattert die Zeltplane irgendwo. Das wird doch Wind sein, oder? Oder eine Bärentatze, die versucht, ins Innere zu kommen? Ich starre in die Dunkelheit. Mein Atmen geht schneller. Mein Freund schläft. Wie immer. Den könnte nicht mal ein Gewitter wachbekommen. Dann donnert es.
Ich verkrieche mich tief in den Schlafsack. So wie früher, wo man den Fuß über die Bettkante gezogen hat, damit das Monster ihn nicht abbeißt. Dann blitzt es. Oh Gott, was wenn der Blitz in das Metallstück in der Zeltkonstruktion einschlägt?
Nachdem ich einige Stunden damit verbringe, mir mein Ableben in der Wildnis auszumalen, schlafe ich endlich ein.
Dann wird es hell.
Tolle Wurst.
Als ich die Zeltplane öffne, strömt mir kühle Morgenluft entgegen. Die Felsen entlang des Sees sind bereits mit den ersten Sonnenstrahlen bedeckt und schräg am Himmel steht der fast volle Mond. Wahnsinn. Ich schnappe mir meine Kamera und stürze barfuß aus dem Zelt. Unten im Tal liegt der See wie ein Spiegel. Ohne eine einzige Welle. Die Verdopplung der Schönheit der Welt im Wasser. Ein Steinschlag und die Illusion bricht. Ich laufe los.
Dann sehe ich ihn: Der Elch ist wieder da. Unten im Tal, am See. Er blickt mich an, das Geweih aufgestellt.
Ich drehe um und tapse zurück zum Zelt.
„Ich dachte, du machst Fotos unten am See“, wundert sich mein Freund.
„Ich ähm… ich glaube, ich ziehe besser Schuhe an“, sage ich und blicke über meine Schulter zurück. „Und… ähm… da ist wieder der Elch.“
Mein Freund lacht und nimmt mich in den Arm. „Ich wusste doch, dass etwas los ist!“, sagt er.
Nach dem Frühstück gehen wir noch zum zweiten Lost Twin Lake hinauf. Zu einem Aussichtspunkt, von dem aus man auf beide Seen gleichzeitig schauen kann.
Jetzt geht es noch einmal zehn Kilometer zurück. Durch Canyons und Wiesen, Flüsse und Tannen. Zum Parkplatz. Wo wir der Holzbox am Beginn des Wegs erzählen können, dass wir nicht zerfressen wurden.
Ich spüre die Sonne auf meinem kalten Gesicht und die Hand meines Freundes in meiner. Und ich weiß: Ich war so richtig campen. In den Bergen in der Wildnis. Wie Reinhold Messner. Ein bisschen. Ha!