Es ist vorbei. Das Leben. Meine Lunge brennt wie Feuer, meine Beine brechen ab und meine Regenjacke ist nass – von innen und außen. 1.000 Höhenmeter bei zehn Grad in strömendem Regen. Ich bin ja bekloppt. „Kannst du bei Amazon nach neuwertigen Knien suchen?“, schreibe ich meinem Freund, als mitten im Nebel plötzlich ein winziges Handysignal aufflackert. Es dauert kurz. „Gibt es da erst für Leute ab 35“, schreibt er zurück. Urkomisch. Ich bin auf dem Weg zur Schellenberger Eishöhle am Untersberg. Dreieinhalb Stunden hoch zum Eingang, eine Stunde in der Höhle, dreieinhalb Stunden wieder zurück. Es sei denn, man stürzt aus Verzweiflung einfach senkrecht ins Tal. Dann nur 3,5 Minuten.
Während die Exkursion in die Eiswelt des Todes zur ultimativen Herausforderung wird, verstecken sich in einem fantastischen Wald haushohe Brocken, auf denen Bäume wachsen. Durch eine Klamm mit Stegen in Steilwänden schießt schäumende Gischt und mitten in einem türkisgrünen See steht ein winziges Holzhaus, dessen Plankenweg sich im Wasser verliert. Ich bin Alice und das ist mein Wunderland. Auf dem zweiten Teil meines Roadtrips nehme ich euch mit nach Berchtesgaden. Zu magischen Orten, die ich weder in Deutschland, noch irgendwo sonst vermutet hätte.
Am Eingang der Almbachklamm lauert ein überdimensionaler Salamander. Na gut, ist nur eine Statue. Alles andere ist allerdings echt. Über 29 Stege und Brücken sowie 320 Stufen geht es drei Kilometer lang immer bergauf am Wildbach entlang. Die Schlucht, durch die er donnert, ist so eng, dass man fast auf die andere Seite springen könnte. Wenn sie nicht komplett senkrecht wäre. Der Bach versucht, sich mit so furioser Geschwindigkeit durch die Steilwände zu pressen, dass es aussieht, wie wenn ich Nudeln koche: ziemlich viel Wasser, das unter hohem Druck ziemlich außer Kontrolle gerät. Die Stege, die meist aus durchsichtigen Gittern bestehen, führen mal auf die rechte, dann wieder auf die linke Seite der Klamm. Ein architektonisches Meisterwerk, wenn man bedenkt, wie viele Besucher die Konstruktion jeden Tag aushält. Außer Kinder und Hunde. Die stürzen ab. Ach so, nee, auf die soll man nur besonders aufpassen. Auf dem Weg nach oben wird mir so heiß (der Wetterbericht hat gelogen), dass ich kurz meinen Kopf unter einen der kleinen Wasserfälle halten muss, die aus den Felswänden sprießen. Dann rutsche ich fast ab, weil ich den Sulzbachwasserfall am Ende der Klamm unbedingt von unten fotografieren will, unten aber feststelle, dass jetzt Gräser im Weg sind.
Am Eingang der Klamm ist übrigens nicht nur ein riesiger Salamander, sondern auch Deutschlands einzige noch in Betrieb befindliche Kugelmühle, die rohe Marmorbrocken durch tagelanges Schleifen zu wunderschönen, glatten Kugeln formt. Als ich der Dame am Shop sage, dass ich schon als Kind vor 15 Jahren hier war und leider meine Kugeln von damals verloren habe, ist sie so gerührt, dass sie mir fast den ganzen Laden schenken will.
Zauberwald. Das klingt jetzt nach so einem typischen Slogan, um Touristen auf eine Lichtung zu locken, wo drei Bäume im Kreis stehen und ihren Namen tanzen. Doch der Zauberwald von Ramsau ist ein begehbares Märchen. Seit einer gewaltigen Steinlawine vor ein paar tausend Jahren, liegen hier unten im Tal riesige Brocken, vom kniehohen Stein bis zum Felsen von der Größe eines Einfamilienhauses. Weil die Brocken schon so lange liegen und keiner Algenentferner gesprüht hat, sind die Steine von saftgrünem Moos überzogen. Wildblumen blühen zwischen den Spalten und ganze Bäume krallen sich mit massiven Wurzeln an die Felsklötze. Wenn sie jetzt noch schweben würden, hätten sie was von René Magritte.
Ich wandere über hölzerne Stege durch den Dschungel von Rotkäppchen und dem bösen Wolf. „Vielleicht doch ganz gut, dass du die blaue Regenjacke gekauft hast und nicht die rote“, sagt mein Freund, der sich mit deutschen Märchen besonders gut auskennt. „Ich habe aber Brote dabei“, erwidere ich ernst. „Wenn ich jetzt ein paar Krümel verliere…“ Auch wenn er gerade wegen der Corona-Grenzschließungen nicht bei mir sein kann, habe ich meinen Freund immer in meiner Tasche auf dem Handy dabei. Nicht alles ist schlecht im 21. Jahrhundert. Ein paar Felsen sind so bunt zugewachsen, dass ich Gesichter erkenne. Knollige Nasen von Gnomen und gräserne Schnurrbärte von alten Riesen. Daneben rauscht ein hellblauer Bach.
Apropos blau. Oder grün. Oder beides. Gleich neben dem Zauberwald liegt der Hintersee. Er ist so klar, dass mein Freund erst denkt, es wäre gar kein Wasser drin. Wurzelreste und Baumstämme liegen an den vielen Buchten, spiegeln sich genau wie die Berge im Hintergrund und lassen das Gewässer wie einen Zauberspiegel wirken. Als wäre der See ein großes Denkarium, in das man hineinblickt, um die Wahrheit der Natur zu finden. Alles ist ruhig und keine Welle regt sich. Bis ich ein Blässhuhn-Küken entdecke. Das winzige Tierchen ist vielleicht gerade mal sieben Zentimeter groß und hat kurze, rote Haare auf dem Kopf. Ich raste komplett aus und stürme auf einen Felsen, um eine bessere Sicht zu haben. Neben mir ein alter Mann mit Pfeife im Mund und Vollbart am Kinn, der vermutlich so tough ist wie Bruce Willis. „Gott, nä, ist das süß!“, sagt er dann und seine Frau fuchtelt mit der Handykamera herum. Eine Familie mit Kindern kommt dazu und bald ist ein großes Hallo im Gange. Nicht weil sich der Watzmann so wunderschön im Hintersee spiegelt, sondern weil ein winziges Entenküken im Wasser herumpaddelt. Es sind die kleinen Dinge im Leben. Und manchmal sind sie nur sieben Zentimeter groß und haben rote Haare.
Ich blicke aus dem Fenster, wo eigentlich der Watzmann zu sehen sein sollte. Doch der Wetterbericht hat gelogen. Keine Spur vom Berg, bloß Starkregen. Dabei wollte ich heute zur Schellenberger Eishöhle wandern. Eine achtstündige Tour mit 1.000 Metern Höhendifferenz vom Fuß des Untersbergs bis hinauf zu Deutschlands größter Eishöhle. Nachdem ich böse auf die Wetter-App gestarrt habe, esse ich ein Stück Schokolade. Dann ziehe ich mich an. Regenjacke, Regenhose, Regenschuhe. Ich packe die Regenhülle für meinen Rucksack ein und stecke mir eine Regenbanane und zwei Regen-Sandwiches in die Seitentasche. Dann fahre ich los. „Leck mich doch am Arsch“, sage ich laut zum rotierenden Scheibenwischer, als ich zum Wanderparkplatz in Marktschellenberg fahre. Ich steige da jetzt rauf. Egal, was passiert. Die Tropfen krachen auf den Asphalt und wieder hoch. Ich gehe los. Nach 500 Metern trieft mein Gesicht, es geht ganz schön steil bergauf und ich überlege, ob ich das wirklich tun soll. Ach was, am Ende bereuen wir immer nur das, was wir nicht getan haben. Ich gehe weiter. Ein kleines Schild informiert mich, dass ich 100 Höhenmeter geschafft habe. Noch 900 liegen vor mir.
Falls ich gedacht habe, es würde unten im Tal regnen, hatte ich keine Vorstellung, was passieren würde, wenn ich in die Wolken steigen würde. Ja, so hoch ist der verdammte Berg. Irgendwo soll die Toni Lenz Hütte sein. Ich bin bei 500 Höhenmetern. Noch 500 to go. Noch mal das gleiche?! Ich schwitze wie ein Iltis, während der Regen wie Dartpfeile auf mich einprasselt. Die Sicht liegt bei einem schwachen Meter und auf den steilen Felsstufen kommen mir Bäche entgegen. Irgendwo bei 700 Höhenmetern spüre ich meine eiskalten und klammen Hände nicht mehr, dafür aber mein Herz, das an meine Rippen hämmert.
Ziemlich tot schlage ich nach fast drei Stunden an der Toni Lenz Hütte auf. Dort bestelle ich einen heißen Kakao für 6,50€. Der Wirt lebt hier oben auf 1.450 Metern und alle Lebensmittel müssen mit dem Helikopter eingeflogen werden, weil es wirklich keinen anderen Weg außer dem endlosen Fußmarsch gibt. Außerdem wickel ich mich in eine warme Decke und hänge meine Jacken an einer Heizung auf. Der Wirt knallt „Schuss“ in meinen Kakao. Vermutlich sehe ich aus wie ein halb erfrorener Pinguin. Mein T-Shirt klebt an meinem Rücken. Ob Schweiß oder Regen, wer weiß das schon.
Nach einer halben Stunde geht es weiter. Noch mal 20 Minuten zur Eishöhle. Der Höhlenführer nimmt mich und drei andere Frauen mit. Andrang sieht anders aus. Am Eingang werden wir mit Helmen ausgerüstet und dann geht es hinab in die eisigen Tiefen der Höhle. Nur mit einer Stirnlampe. Bis zu 60 Metern unter der Erde bewegen wir uns. Der Guide reißt ein paar Mal ein Magnesium-Licht in der völligen Finsternis an, in dem riesige Eisbrocken, hellblaue Eiswände und Kristalle aufleuchten und glitzern. Eine fantastische Unterwelt in einem kaum zugänglichen Gelände. Die Höhle kann nur für wenige Wochen im Sommer besucht werden. „Im Winter sind hier minus 20 Grad und der Eingang ist verschneit“, erklärt der Guide.
Danach muss ich wieder runter. Den ganzen Weg. Immerhin nieselt es nur noch. Ich spüre jeden Knochen. Und noch ein paar, die ich vorher noch nicht hatte. Doch ich habe sie gemacht: die ultimative Challenge.
Mein letzter Tag in Berchtesgaden. Die Wetter-App sagt, dass es wieder schüttet. Ich breche. Ich wollte doch noch zum Königssee. Was soll’s. Wenn ich was will, mache ich es einfach. Ich ziehe los zum Bootsanleger. Mit einer der leisen Elektrofähren drifte ich still in das dunkelgrüne, tiefe Wasser. Die Steilwände fallen direkt in den See. Und weil sie so magisch sind, können sie ein Echo siebenfach (!) wiedergeben. Mitten auf dem Wasser hält der Kapitän an, holt eine Trompete heraus und spielt ein simples aber orchestrales Stück Richtung Berge. Wo es kraftvoll zurückschallt, als wäre ein klassisches Quartett aus Engeln und Geistern dort oben versteckt. Gänsehaut.
Nach einem kleinen Stopp bei der berühmten Kapelle St. Bartholomä, fahre ich weiter bis zum Obersee. Der schönste Teil des Königssees, tönt der Kapitän.
Zu Recht. Das türkise Wasser breitet sich in den Felskessel aus. Von rechts donnert lautlos – weil zu weit weg – der Röthbachfall aus einer schier unermesslichen Höhe. 470 Meter ist er hoch und damit Deutschlands höchster Wasserfall. Ganz hinten am See duckt sich dunkelbraun die Fischunkelalm in das helle Grün der Wiesen. Und dahinter geht es nicht weiter. Das Tal schließt sich. Es gibt keinen Spazierweg hinaus. Hinter der Felswand beginnt Österreich. Es hat etwas Absolutes und Endgültiges, an diesem Ort zu sein. Als ich um den See herumlaufe, sehe ich eine kleine Holzhütte, die mitten im Wasser steht. Der Steg zur Tür verliert sich unter den sanften Wellen. Ich muss mich setzen. Es ist so wunderschön. Und es regnet nicht. Der Wetterbericht hat gelogen.
Auf dem ersten Teil meines Roadtrips durch Deutschland habe ich Zugspitze, Neuschwanstein und diverse Höllentäler- und Berge unsicher gemacht. Den Bericht dazu findet ihr unter Das Schloss in den Wolken und Tibet in den Alpen – Garmisch-Partenkirchen.
Lonelyroadlover (Freitag, 26 August 2022 13:08)
Hi Peter,
vielen Dank - wie immer. :)
Ich erinnere mich natürlich noch gut an meinen Stopp beim Chiemsee und unser Treffen auf meiner Reise. Das ist es doch, was es ausmacht: Abenteuer und Wildnis, aber auch nette Menschen treffen, Erfahrungen machen, immer das Beste draus machen.
Liebe Grüße
Sarah
Don Pedro (Mittwoch, 24 August 2022 20:14)
Servus Sarah,
bin wieder „hin und weg“ von Deinem Schreibstil. Der ist so knallig.
Wir hatten uns kurz vor diesem Trip in Grassau/Oby. getroffen und Du warst noch so aufgeregt von Deiner „Garmisch-Woche“. Mit der “Berchtesgaden- Woche“ hast Du es nochmal zu toppen versucht.
Klasse, dass Du nichts auslässt und so viel erlebst.
Sonnige Grüße
Don
Lonelyroadlover (Sonntag, 12 Juli 2020 17:06)
Hallo Kasia!
Lieben Dank für das schöne Kompliment. :) Leute mitzureißen, statt nur zu berieseln, ist das Beste, das einem als Autorin passieren kann. Ich freuen mich, dass du mit mir dort warst. Auf geht's mit der Planung!
Ganz liebe Grüße
Sarah
Kasia Oberdorf (Sonntag, 28 Juni 2020 20:02)
Also, du kannst einfach schreiben. Gerade war ich dabei im Zauberwald und habe dir über die Schulter geschaut ;-) Und jetzt habe ich ein neues Reiseziel, das in meinem Kopf schwebt...
Liebe Grüße
Kasia