Verschollen in der Steilwand – wie wir fast so richtig abgeschissen wären.

7. September 2019

Bergsteigen, Gewitter, Gefahren, USA
Der Beginn des Desasters: Gewitter im Berg

Ich glubsche bekloppt mit meiner Fliegerpiloten-Sonnenbrille in die Kamera. Der Himmel ist knallblau und die Sonne reflektiert in den Gläsern. Wer hätte wissen können, dass ich nur wenige Stunden später mit peitschendem Wind in der Fresse ohne Halt in einer Steilwand hänge, während meinem Freund das Blut von den Beinen läuft? Wir wollten einfach nur Wandern. Einen neuen Pfad entlang der Kante eines Canyons.

 

Als die dunklen Wolken kommen, lachen wir noch. Wir sind ja nicht aus Zucker. Wir haben schon so vielem standgehalten. Wir haben Regenjacken und heulen nicht rum.

Die Wahrheit ist, dass du nicht in beschissene Situationen gerätst, weil du schlau, tough oder total besemmelt bist. Manchmal kommen einfach alle filmreifen Unmöglichkeiten zusammen und dann wird aus einem hochfliegenden Abenteuer plötzlich ein himmelschreiendes Desaster. Der entscheidende Moment ist der, in dem du den Unterschied bemerkst, aber nicht mehr zurück kannst. Der Moment, in dem du dich zum ersten Mal umdrehst und feststellst, dass nichts zwischen dir und dem kleinen grünen Fluss in 400 Metern Tiefe ist.

Grandiose Aussicht in den Schlund

Clarks Fork Canyon, Wyoming
Wunderschöne Aussicht in den Clarks Fork Canyon

Es ist heiß. Ich donner mir eine Tonne Sonnencreme ins Gesicht und wir laufen los. Der Weg ist etwa 7 Kilometer lang. 7 Kilometer hin und wieder zurück. 400 Meter runter bis zum Grund des Canyons und wieder rauf. Wir sind ja hier nicht beim fußlahmen Golfclub von Bad Sassendorf. Die Aussicht ist gewaltig. Felsen wie Muskeln von Riesen liegen im Tal, zerschnitten vom weißen Wasser des Clarks Fork of the Yellowstone River. Ein Wasserfall stürzt aus einer Felsspalte hervor und dröhnt in die Tiefe. Obwohl wir noch ganz oben am Rand des Canyons stehen, sind die Geräusche überwältigend. Niemand außer uns ist heute auf diesem relativ unbekannten Trail am Chief Joseph Scenic Highway in Wyoming unterwegs. Eine ziemlich gute Sache, finden wir, weil Menschen doch oft irgendwie stinken.

 

Der Pfad führt von der grandiosen Aussicht immer weiter hinunter in den Schlund des Canyons.

„Ich weiß, krasse Info – aber das müssen wir später auch alles wieder rauf“, sagt mein Freund grinsend. Er hat das diebischste und umwerfendste Grinsen der Welt.

„Wir können auch einfach da unten bleiben, bis es in 2,5 Millionen Jahren die nächste geologische Verwerfung gibt und wir damit bis zum Auto geschleudert werden“, gebe ich zu bedenken. Er stimmt zu. Eine realistische Möglichkeit!

Vom blauen Himmel zur Gewitterwolke

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Super Wetter - wer denkt schon an Gewitter!

Als es richtig steil wird, beginnt der Trail sich in Serpentinen hinabzuwinden. Ein ganzer Haufen an Geröllabgängen aus früheren Monaten und Jahren macht es schwer, den eigentlichen Weg zu erkennen. Was soll’s. Wir steigen einfach über die Brocken.

 

„Sieht ganz schön dunkel aus da hinten“, sage ich irgendwann, als wir schon recht weit unten sind aber immer noch ein gutes Stück entfernt vom Fluss im Tal. Eine Wand aus grau-lila Wolken schiebt sich von links über den Horizont. Es ist irgendwie surreal. Auf der rechten Seite knallt die Sonne vom blauen Himmel. Wir halten an. Ich glaube, Donner zu hören. Vielleicht hat aber auch nur ein Grizzly gehustet. Keine Ahnung, was besser ist.

„Wir sollten umkehren und die Wanderung an einem anderen Tag fortsetzen“, schlägt mein Freund diplomatisch vor. Nicht, weil wir nass werden könnten (was uns natürlich noch nie im Leben passiert ist). „Wenn wir da unten sind, den Trail schlecht erkennen und der ganze Sandstein dann noch rutschig wird, sind wir am Arsch.“

Wir beschließen, dass es nicht so cool ist, am Arsch zu sein, und drehen um.

Abenteuer – klettern im Geröll!

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Klettern im Geröllfeld auf der Suche nach dem Trail

„Ich glaube nicht, dass das der Trail ist.“ Mein Freund zuckt mit den Schultern. Der gesamte Abhang sieht einfach nur aus wie eine Wüste aus riesigen, weißen Felsen.

„Ich seh nix“, kommentiere ich schlau.

Unsere Überlegungen kommen zu dem Schluss, dass wir einfach nur gerade nach oben steigen müssen und irgendwann auf jeden Fall wieder den Trail kreuzen werden, der auf gerader Linie oberhalb des Canyons verläuft. Am einfachsten wirkt der Weg durch eines der Geröll-Lawinenfelder. Da sind immerhin genug dicke Brocken, an denen man sich festhalten kann. Aufregender Scheiß! Ich hangel mich an ein paar Steinen entlang und wir gewinnen schnell an Höhe.

 

„Siehst du den Weg?“, rufe ich. Wir klettern nebeneinander statt hintereinander her, um keine losen Steine auf die Rübe des jeweils anderen zu schmeißen.

„Ja, da ist er!“, erwidert mein Freund.

Dann doch nicht. Na, egal. Wir sind ja auch ordentlich tief in die Schlucht gewandert und es dauert vermutlich eine Weile, bis wir wieder am Rand des Canyons ankommen, wo wir auf den Pfad stoßen.

Als der Weg endgültig verloren ging

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Erstmal hinfliegen - super!

Unter lautem Grummeln schießen ein paar Steine ins Tal und mein Freund gibt einige Laute von sich, die nicht gerade von Begeisterung zeugen.

„Ist alles in Ordnung?“, brülle ich.

„Ja!“, ruft er zurück. Ich weiß, dass er wieder ein bisschen flunkert, weil wir beide der Meinung sind, dass ein bisschen Blut und ein paar Kratzer noch im Rahmen der Ordnung liegen.

Es wird immer dunkler und der Wind nimmt zu. Langsam fühlen sich meine Handflächen etwas rau an. Ach, das gehört bei einem Abenteuer dazu!

„Da oben ist der Trail!“, schnaube ich. Eine flache Kante tut sich vor uns auf. So langsam habe ich keinen Bock mehr. Es donnert in der Ferne.

„Ach, halt die Klappe“, sage ich zu den Wolken.

Dann ziehe ich mich an den letzten Felsen hoch und – sehe noch mehr Felsen. Vor allem aber winzigen Schotter. Unbegeistert versuche ich, irgendwo Halt zu finden. Wo ist dieser dusselige Weg, wenn nicht hier!?

Realitätsschock – da unten ist nichts!

Clarks Fork Canyon, Wyoming USA
Verdammt tief, dieser Scheiß-Canyon

Bisher war alles gut. Suboptimal, aber okay. Doch dann sehe ich, dass mein Freund nicht nur einen Kratzer hat, sondern das Blut schon auf seinen Schuh tropft. Ich möchte mir das genauer ansehen. Doch ich komme nicht mehr weg. Ich meine, ich komme nicht mehr weg.

 

Meine Arme und Beine sind wie ein X auf die Wand genagelt und sobald ich nur den kleinen Finger bewege, gerät der gesamte Abhang ins Rutschen. Wie Sand rinnen die kleinen Steinchen unter mir hindurch. Dann löst sich unter meinem rechten Fuß ein größerer Brocken. Er fällt und fällt und fällt, bis ich ihn nicht mehr hören kann. Ich angel mit dem Schuh nach festem Grund und finde nichts. Dann werfe ich zum ersten Mal wirklich einen Blick über meine Schulter nach unten.

„Scheiße“, flüstere ich. „Wo sind wir!?“ Natürlich hat sich der Aufstieg steil angefühlt. Aber nicht so vertikal, wie das, was ich jetzt unter mir sehe. Mein Herz rastet aus. Ich habe keine Höhenangst. Aber ich habe auch nicht vor, noch heute vor den Herrn zu treten. Auf einmal blitzt es. Eine eisige Brise reißt an meinen Haaren. Ich fühle mich wie Bruce Willis auf Koks. Alles, was ich inzwischen noch will, ist hier wegkommen. Alles, was ich nicht will, ist, mich auch nur einen Zentimeter bewegen. Wenn ich mich jetzt nicht halten kann, dann war’s das. Da unten ist nichts. Nur große Felsen und Bäume, auf denen man in ganz kleine Stücke zerschlagen wird, wenn es einen nicht schon vorher zerreißt. Es ist eine Stille in meinem Kopf, die zu lodern scheint.

Blitze und Verschleiß

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Wer hier fällt, ist hinüber

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich aus dieser Situation herausgekommen bin. Es war mehr Risiko als Plan im Spiel. Aber schließlich machen wir an einem kleinen Plateau mit Büschen halt. Ich friere und habe Durst, aber wir haben nur noch ein paar Schlucke Wasser.

„Du bleibst hier und ich gehe gucken, wo der Trail ist“, beschließt mein Freund. Ich finde das erst gut, weil ich dann mal schnell um die Ecke pinkeln gehen kann. Als er allerdings nicht wiederkommt, finde ich die Idee ziemlich beschissen. Ich überprüfe das Bear Spray in meinem Rucksack. Ist ja nicht so, dass wir nicht auch noch in Grizzly Territorium wären. Allerdings ist das Vieh wahrscheinlich eher nicht in einer vertikalen Steilwand unterwegs.

 

Als mein Freund nach Äonen zurückkommt, blutet er noch mehr, erzählt mir aber nicht, dass er heftig abgestürzt ist und erst zwei Zentimeter von einem Felsblock entfernt mit dem Kopf liegen geblieben ist. Dafür glaubt er, den Trail gesehen zu haben.

Wir steigen höher. Und höher. Auf einer freien Fläche blitzt es wieder wie verrückt. Ich habe mir mehrfach das Bein aufgeschlagen und meine Handgelenke schmerzen wie irre von dem dauernden Klammern und Greifen. Wir haben nichts dabei, was nur im Entferntesten an Kletter-Equipment erinnert.

„Und dann hoffen wir, dass jemand Search und Rescue holt!“

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Pilot und Index am Horizont - was machen die denn da?

Wir sitzen unterhalb eines großen Felsens, um uns kurz auszuruhen, eines der beiden Sandwiches zu essen und die Lage zu besprechen. Es ist ungefähr so gemütlich, als würde man auf Stacheldraht picknicken. Es fängt an, zu regnen.

 

„Wenn es jetzt richtig schüttet, kommen wir hier nicht mehr weg. Viel zu rutschig. Dann können wir nur noch übernachten und hoffen, dass jemand zu Hause den Zettel findet und Search and Rescue ruft“, sagt mein Freund. Selbst rufen können wir die Truppe leider nicht, denn der Handyempfang ist im Bermuda Dreieck versumpft.

Search and Rescue war bisher immer ein Running Gag. Haha, dann kommt der Hubschrauber. Haha, überhaupt nicht mehr komisch.

 

Zum Glück hört der Regen wieder auf.

„Sind das da hinten nicht Pilot and Index?“, frage ich auf einmal und deute auf die beiden hohen Bergspitzen mit den seltsamen Namen. Beeindruckend. Die habe ich auf dem Hinweg gar nicht gesehen! Ich mache ein paar Fotos. Wo ich schon mal hier bin. Dann habe ich die brillante Idee, auf der Kamera die Aufnahmen vom Vormittag zu suchen, um zu sehen, ob ich landschaftlich etwas wiedererkenne, das uns Orientierung geben könnte.

„Guck mal, das sieht so ähnlich aus wie die Klippe da drüben“, sage ich und halte das Display gegen den Horizont. „Aber nee, irgendwie ist das anders!“

70 Meter über dem Trail – wir könnten tot sein

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Kein bisschen lustig - Absturz auf dem Berg

„Doch. Das ist die Klippe“, erwidert mein Freund nach eingehender Betrachtung. „Nur sind wir unfassbar viel höher.“

Ich gucke in die wüste Landschaft. Das erklärt dann auch, wieso ich plötzlich Pilot und Index sehen kann. Eine Sekunde später ist das Handy draußen. Ich schaue auf eine meiner Offline-Karten. „Ich fass es nicht. Wir sind siebzig Meter über dem Trail!“

Wie zum grundgütigen Dreizack haben wir den Weg gekreuzt, ohne es zu merken? Wirklich Zeit, um uns darüber zu wundern, haben wir nicht. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Brillant. Ich starre in die senkrechte Tiefe und bekomme kurz einen wütenden Ohnmachtsanfall. Das schaffen wir nicht.

 

Doch es gibt keine echte Alternative außer Search and Rescue. Und die muss auch erstmal jemand rufen und an den richtigen Ort schicken.

Mein Rücken sticht wie verrückt und meine Knie fühlen sich seltsam taub an. Als ich mich gerade an eine kleine Felsnase klammere, um abzusteigen, kracht es. Das einzige, was ich noch sehe, ist mein Freund, der in die Tiefe schießt und mit dem Hinterkopf an einen Stein schlägt. Auf einmal höre ich den Wind nicht mehr. Ich glaube, ich schreie. Aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich kann nichts tun. Wenn ich loslasse, falle ich bloß hinterher. Mein Herz rast. Ich habe Angst wie Blendschmerz. Wir könnten tot sein. Und ich kann nichts tun.

Der Weg zurück

Sonnenuntergang in den Bergen, goldene Stunde
Sonnenuntergang im Berg - endlich auf dem Weg nach Hause

Es dauert noch zwei Stunden, bis wir endlich den Trail erreichen. Ein paar Mal rutschen wir einfach auf dem Hintern über das lose Geröll auf niedrige Büsche und Wurzeln zu, in der Hoffnung, dass sie nicht mit uns in die Tiefe schottern. Mein Freund blutet einfach überall und ich kann vor Schmerzen in meinen Knien kaum noch stehen. Nichts ist übrig vom Geist des Abenteuers. Das hier ist kein Spaß. Schon lange nicht mehr. Einmal habe ich Tränen in den Augen, weil ich einfach nicht mehr weiter weiß. Ich mache mir riesige Sorgen um meinen Freund und spüre, wie mein eigener Körper langsam aufgibt. Unter einer Extrembelastung, die weit über das hinausgeht, was noch grenzwertig ist.

 

Auf dem Pfad nehmen wir uns kurz in den Arm. Wir haben uns. Das ist so ziemlich das einzige – aber auch das einzige, was gerade zählt. Jetzt liegen noch 6 Kilometer vor uns, bis wir am Auto sind.

Während wir durch den Wald stolpern, wird es dunkel. Ich denke an Bären. Dann daran, wie mein Freund den Berg runtergestürzt ist. Dann fange ich an, innerlich die Melodie von „Yellow Submarine“ zu summen, um meine Schmerzen auszublenden und weitergehen zu können.

 

Es ist knackfinster, als wir irgendwann durch die Tür ins Wohnzimmer taumeln. Ich mache wie in Trance ein Stück Pizza warm. Wir zimmern uns literweise Wasser rein. Als wir sitzen, zittert mein Freund urplötzlich so sehr, dass ihm fast die Pizza hinfällt. Ich hole ihm eine Decke und krieche zurück. Dann sitzen wir einfach nur da. Im Dunkeln. Wir sind zurück. Wir sind noch da.

Ich bin dankbar.

Kommentare: 4
  • #4

    Lonelyroadlover (Dienstag, 09 August 2022 17:22)

    Hey Nina,
    ja, das war wirklich übel. Einer der panischsten Momente in meinem Leben. Ich bin auch so froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist am Ende. Denke immer noch mit sehr ungutem Gefühl daran zurück.
    Liebe Grüße
    Sarah

  • #3

    Nina (Montag, 08 August 2022 23:30)

    Mensch, das ist ja mal eine krasse Geschichte. Zum Glück habt ihr es geschafft und außer Erinnerungen nichts zurückbehalten, was keiner braucht.

    Viele Grüße, Nina

  • #2

    Lonelyroadlover (Donnerstag, 19 September 2019 16:26)

    Hi Dustin!
    Danke für das Kompliment. ;) Das war wirklich "holy shit"... Man unterschätzt echt vieles, vor allem wenn lange alles gut gegangen ist... Ihr wart ja auch schon in der Yellowstone-Gegend und wisst, wie es da aussieht. Der Natur ist es tatsächlich komplett egal. Die ist einfach da. Ob man vorbereitet ist oder nicht.
    Jetzt sind wir etwas mehr "auf der Hut".
    Liebe Grüße!
    Sarah

  • #1

    Dustin (Samstag, 07 September 2019 21:51)

    Hey,
    das war ohne Witz einer der spannendsten Blogbeiträge, die ich seit langem gelesen habe. Holy Shit, was hattet ihr Glück! Man unterschätzt in der Wildnis da drüben doch immer wieder, wie wild es letztendlich ist und der wunderschönen, aber gleichzeitig gnadenlosen Natur ist es völlig egal, ob man überlebt oder nicht.

    Gut, dass ihr es raus geschafft habt!

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