Heiligabend in einer Holzhütte in den Bergen mit Schnee. Darf man mal so kack-romantisch sein? Ja, darf man! Seit über zehn Jahren will ich mir diesen Traum erfüllen. Und jetzt haben wir es gemacht! Gipfel und Tannen vorm Fenster, Kerzen auf’m Tisch, eine Tasse Tee in der Hand, Holzofen in der Ecke. Kein fancy fünf-Sterne-Chalet, kein Hotelzimmer im Tal, keine anderen Gäste. Nur mein Männe und ich ganz weit weg in einer einfachen Selbstversorger-Alm. Stille Nacht.
„Kocht der Schnee schon?“, rufe ich tief und hohl aus dem Brunnenschacht, während mein Handschuh auf den siffigen Boden fällt und sich augenblicklich mit eisigem Matsch vollsaugt. Gut, jetzt war es letzte Nacht minus acht Grad kalt und die Leitungen zu unserem Brunnen draußen sind eingefroren. Das bedeutet: kein Wasser. Am besten ihr kippt mal zwei Kessel heißes Wasser drauf, dann läuft das meist wieder, hat mir unser Vermieter im Tal per WhatsApp geschrieben. Immerhin haben wir ein schwaches Handysignal, wenn ich nah genug rüber zum Plumpsklo gehe. Leider haben wir halt kein Wasser zum Drüberkippen, geschweige denn heißes. Aber zum Glück gab’s am Tag davor zwanzig Zentimeter Neuschnee, den wir jetzt auf dem Holzofen zum Schmelzen und Kochen bringen.
Eine Woche lang sind wir über Weihnachten in Bayern auf einer Alm aus dem Jahr 1870, auf 1.100 Metern Höhe mitten im Berg. Kein WLAN, kein fließendes Wasser im Haus, keine Dusche, kein Supermarkt in der Nähe, ein kleiner Brunnen auf der Terrasse, ein kleines Solarpanel auf dem Dach, das dauernd eingeschneit ist, ein Holzofen zum Heizen und Kochen und über eine Stunde Fußmarsch bis zum Auto im Tal. Eine Woche lang sind wir dort oben – mit Schneesturm, Herausforderungen, unglaublichen Sonnenaufgängen, Kaiserwetter und dem schönsten Weihnachten, das ich je hatte. Bereit für den Aufstieg?
„Kannst du mal schnell googlen, was man noch machen kann, um das Eis aus den Leitungen zu bekommen?“, rufe ich aus dem Schacht.
„Ich hab nur noch ganz wenig Akku. Ist das Solarpanel auf dem Dach wieder frei?“, ruft mein Mann von drinnen, während er ein weiteres Holzscheit in den Ofen donnert, damit der Schnee schneller schmilzt.
Ich klettere aus dem Brunnenloch und geh gucken. „Nee. Drei Tonnen Schnee. Machste nix.“
Nachdem ich mit Klebeband zwei Besen aneinandergebunden habe und auf einen wackligen Stuhl gestiegen bin, um das blöde Panel freizufegen, stelle ich fest, dass meine Konstruktion nicht mal im Entferntesten bis aufs Dach reicht. Da müsste ich schon ganz raufklettern. Ich muss lachen. Ich brech mir doch jetzt hier nicht eine Stunde Fußmarsch entfernt von der Zivilisation das Bein, nur um irgendeinen Schrott zu googlen, den Leute im Jahr 1870 auch nicht googlen konnten.
Stattdessen sammeln wir zwei weitere Stunden Schnee, schütten heiße Kessel auf die Leitungen und beömmeln uns. Als ich kurz eine Pause mache und meine nassen Klamotten auf der Holzstange über dem Ofen aufhänge, höre ich einen Ausruf von draußen: „Wasser!“
„Echt jetzt?“, brülle ich ungläubig und renne fast auf Socken raus.
Aus dem Brunnenrohr kommt eiskaltes, kristallklares Wasser. Flüssig. Fließend! Wir tanzen und gröhlen. Ich fühle mich fast betrunken, weil es so cool ist, sich über so etwas Einfaches wie Wasser zu freuen.
Vor nicht mal hundert Jahren haben selbst Menschen in Europa noch so gelebt. Meine Oma hatte auch einen Brunnen. Was haben wir für einen scheiß Luxus heutzutage – und wissen es überhaupt nicht mehr zu schätzen. Ich muss an die Menschen denken, die wir in Nepal und Namibia getroffen haben, die nicht mal im Traum an fließendes, sauberes Wasser denken können.
Als es dunkel wird, zünden wir Kerzen an. Vom Ofen geht eine tiefe Wärme aus. Wenn man ganz still ist, hört man das Holz knistern. Wir haben uns Pesto Pasta gekocht. Auf einem Ofen, den man nicht auf „fünf“ oder „275 Grad“ stellen kann – sondern nur auf „viel Holz“, „mittelviel Holz“ und „wenig Holz“. Alles dauert länger. Das Kochen, das Spülen draußen am Stein im Schnee, das Anwärmen der Butze, wenn nachts im Schlaf der Ofen ausgeht,…
Nur das Duschen geht schneller. Mit einer Waschschale, Seife und Waschlappen. Ih? Quatsch. So haben sich Menschen für Jahrhunderte gewaschen. Ich bin erstaunt, wie frisch ich mich fühle und wie verflixt wenig Wasser ich im Vergleich zu einer Dusche verbraucht habe.
Dann sitzen wir auf der Holzbank mit einer flauschigen Wolldecke. Mein Männe liest mir aus dem Weihnachtsbuch von Petterson und Findus vor. Das machen wir jedes Jahr. Vielleicht auch, weil Petterson ziemliche Ähnlichkeit mit meinem Mann hat und ich irgendwie wie die Katze bin, was immer wieder zu Erheiterungen und Unterbrechungen führt. Außerdem haben wir neben Essen für eine Woche auch selbstgebackene Weihnachtsplätzchen und einen kleinen Tisch-Weihnachtsbaum mitgebracht. Und meinen Ikea-Wichtel. So viel Ordnung muss sein. Unsere Handys sind oft aus. Nicht nur, weil wir wenig Strom haben, sondern auch, weil wir lieber Kniffel spielen, Wandern gehen oder aus dem Fenster auf die glitzernde Stadt schauen, die weit unten in der Nacht liegt.
An Heiligabend schneit es wie verrückt. Den ganzen Tag. Immer wieder gehe ich raus und schippe Schnee, damit wir noch aus der Tür kommen. Ich habe einen Ohrwurm von „White Christmas“ und möchte am liebsten ganz laut schallern. Hört ja hier eh keiner.
Moment, was ist denn das da drüben? Am Hang vor unserem Haus sind plötzlich zwei Gemsen, die im Schnee nach Gras scharren. Ich werde ganz ruhig und beobachte sie einfach nur.
So schön. Kurz darauf sehen wir vom Fenster aus noch ein Hermelin.
Am Abend essen wir selbstgemachten Kartoffelsalat – so very German! – hören ein bisschen Weihnachtsmusik auf meinem Handy, die ich vorher zu Hause runtergeladen habe, und wofür ich mir jetzt extra Akku aufgespart habe. Außerdem haben wir Kinderpunsch mitgebracht.
„Und warum ärgert man sich da jetzt?“, fragt mein Mann zweifelnd, während ich das Spielbrett für Mensch-Ärgere-Dich-Nicht aufbaue. Mein Mann hat noch nie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht gespielt. Ist in den USA nicht populär. Und wo kann man besser Brettspiele spielen als eingeschneit an Heiligabend in ’ner Hütte. Ich rekapituliere meine Kindheit, in der ich einmal knallrot im Gesicht das Spielbrett an die Wohnzimmerwand geschleudert habe. Ich glaube, ich war immer schon etwas impulsiv.
Als mein Mann mit seiner Figur einmal ganz ums Spielbrett gerannt ist und ich ihn genau vor dem Ziel weghaue, schaut er mich an: „Was ist das denn?!“, fragt er aufgebracht. Ich grinse.
Der soll aber mal nix sagen, schließlich hatte er heute Nachmittag drei Kniffel in einem Spiel und ich hatte nicht mal ’ne Große Straße.
Am ersten Weihnachtstag ist es klar. So klar, dass ich um drei Uhr nachts auf
dem Weg nach draußen zum Plumpsklo beinahe ausrutsche, als ich die Millionen Sterne am Nachthimmel sehe. Alter, sowas gibt’s doch sonst nur in der Namib Wüste oder in Neuseeland. Aber so ein
Nachthimmel in Deutschland?! Wooow!
Und dann am Morgen der Sonnenaufgang. Wie ein Huhn renne ich bei minus elf Grad durch den Pulverschnee den Hang rauf für einen besseren Blick auf die Alpengipfel und die Hütte. Erst ist der Himmel bläulich-violett und mein Gesicht friert ein wie Bofrost-Brokkoli. Doch dann fangen die Bergspitzen an, zu glühen. Orange, rot, pink. “Aaahahaha, was ist das denn?“, rufe ich bescheuert, weil ich das Gefühl habe, dass das nicht real ist. Sind wir echt am ersten Weihnachtstag im Schnee in den Bergen und sehen Alpenglühen von unserer Holzhütte aus? Das muss ein Traum sein. Während ich noch laut lache, merke ich, wie ich auf einmal gleichzeitig heule.
Das Schönste an allem ist nämlich, dass mein Mann und ich das alles nach seiner scheiß Krebsdiagnose vor zwei Jahren noch gemeinsam erleben dürfen. Dabei haben die Statistiken ihm eigentlich gar eine zwei Jahre mehr gegeben. Und jetzt ist er nicht nur hier, sondern wandert auch noch mit mir zu Almen, Gipfeln und Träumen.
Vor lauter Freude baue ich ein Schnee-Eichhörnchen auf unserer Terrasse. Und dann geht’s raus auf den Trail. Raus und weg. Dort, wo das Leben liegt und wir all das machen, was wir immer schon machen wollten.
Wenn du magst, kannst du unseren Geschichten, Reisen, Fails und Abenteuern täglich auf Instagram folgen: @squirrel.sarah.
Weitere Berg-Storys gibt's her: