Das Morgenlicht hängt wie ein halbtransparenter Vorhang vom Himmel, zwischen den Gipfeln der Alpen und der Ski-Sprungschanze in Oberstdorf. Wir wollen vom Tal aufs Nebelhorn wandern. Zehn Kilometer, 5 Stunden und 1.400 Höhenmeter sagt die Karten-App. Gut, das ist jetzt kein Abendspaziergang an der Strandpromenade von Sylt, aber auch kein Grund, in Panik zu verfallen.
Dachten wir.
Drei Stunden später sitzen wir in sengender Hitze auf einem Berggrat, der an manchen Stellen nur so breit ist wie ein Fuß. Genau ein Fuß.
So wie der Fuß, den mein Freund sich gerade beim Abrutschen über die Bergkante umgeknickt hat. Natürlich auf der Hälfte des Wegs. Es geht nicht vor und nicht zurück. Links und rechts stürzt ein Abgrund mehrere hundert Meter ins Tal. Als ich aus Versehen einen Stein über die Kante schieße, fällt er und fällt und fällt und zerbricht unterwegs in winzig kleine Splitter. Es gibt keine Schutzhütte, keine anderen Wanderer und nicht mal ein Handysignal. Ich frage mich, wie wir jemals auf diesen Pfad geraten sind, der auf der Karte so machbar ausgesehen hatte.
Und dann ist sie da: die Panik.
Heiß soll es werden. „Hitzewarning von deutsche Wetterdeenst“, liest mein Freund mit seinem niedlichen, amerikanischen Akzent von seinem Handy vor. Da trifft es sich gut, dass wir durch Wälder hinauf zu einem Berggipfel wandern wollen, an dem nur 20 Grad angesagt sind.
Der Aufstieg zum Gipfel des 2224 Meter hohen Nebelhorns ist auf verschiedenen Wegen möglich. Zwei führen erst durch Täler und am Ende auf Serpentinen steil hinauf. Ein Tal, blah! Das kann doch jeder! Ich habe stattdessen mein Auge auf einen dritten Wanderpfad geworfen, der zuerst 700 Höhenmeter in drei Kilometern wegknackt und danach oben schön auf einem flach aussehenden Höhenweg mit Aussichtspunkten bis zum Aufstieg am finalen Gipfel verläuft. „Da gibt’s bestimmt die ganze Zeit über mega Ausblicke!“, rufe ich, während wir auf dem ersten Abschnitt des Wegs in den kühlen Wald stapfen.
Zuerst sieht man aber wegen der vielen Bäume nix. Nicht mal den Wald, haha. Und die 700 Höhenmeter knallen auch direkt rein. Der Pfad ist schmal, extrem steil und mit dicken Wurzeln übersät. Mehrmals muss ich mich hinsetzen und Luft holen. Das passiert mir selten. Aber bald sind wir ja auf dem Plateau, wo es fünf Kilometer chillig geradeaus geht. Ein Gedanke, der meine brennende Lunge in den Hintergrund drängt.
Wir erreichen den ersten kleinen Gipfel, den Schattenberg. Dort beginnt das Plateau. Wir machen Selfies an einem Gipfelkreuz und ich stürze ordentlich Wasser in mich rein. Am liebsten würde ich eine ganze Flasche über meinen knallroten Kopf schütten, aber wir müssen trotz mehrerer Liter im Gepäck gut damit haushalten. Zu wenig Wasser auf einer Wanderung kann einen den Kragen kosten. Dehydrierung is real. Echt jetzt.
Seltsamerweise geht es aber von hier nicht gemächlich geradeaus, sondern immer weiter hinauf. Dann wieder runter, dann wieder hinauf. Der ohnehin schon schmale Wanderweg wird zu einem Bindfaden. Ich blicke mich um. Mega Ausblicke, keine Frage. Aber auch mega Abgründe. Und so nah. Außerdem haben wir die Baumgrenze hinter uns gelassen. Die kack Sonne brennt wie ein Unkrautvernichter-Flammenwerfer.
Dann passiert es. Mein Freund, der hinter mir läuft, gibt einen seltsamen Ruf von sich. Wären wir in den Rocky Mountains, würde ich denken, er hätte einen Bären gesehen. Als ich mich umdrehe, zieht er auf ungute Weise seinen Fuß von der Abbruchkante weg.
„It’s bad“, sagt er bloß und setzt sich. Mein Freund setzt sich nie. Er wandert krasser als Moses in der Wüste. Wenn er stolpert, geht er einfach weiter. Mein Herz schlägt schneller. Ich blicke hunderte Meter hinunter ins Tal.
„Ich weiß nicht, ob ich weitergehen kann“, sagt er.
Alter, was soll das heißen?! Auf einmal muss ich an die Helikopter denken, die wir auf unserem Trip durch Bayern so oft in den Bergen gesehen haben. Die Helikopter, die Menschen in Bergnot rufen. Ich schaue auf mein Handy. Kein Signal.
Direkt unterhalb des Nebelhorn-Gipfels fährt es eine Seilbahn zurück ins Tal nach Oberstdorf. Fünf Kilometer und 300 Höhenmeter sind es zu Fuß von hier bis zur Seilbahn. Oder fünf Kilometer und 800 Höhenmeter zu Fuß von hier zurück ins Tal. Scheiße.
Wir beschließen, weiter bergauf zu gehen. Mein Freund humpelt. So nah und doch so fern erscheint von hier die Bergstation der Seilbahn auf der anderen Seite des tief eingeschnittenen Tals. Ich überlege, ob ich mit Sonnenreflexionen auf meinem Handydisplay SOS-Signale dorthin schicken kann. Auf einmal möchte ich heulen. Schweiß und Sonnencreme brennen in meinen Augen.
Weil wir jetzt nur noch langsam laufen können, sind wir viel länger in der Hitze und brauchen viel mehr Wasser als gedacht. Als wir dann noch an eine Stelle kommen, die so steil abfällt, dass man mit den Händen klettern muss, bekomme ich Panik. Am liebsten würde ich schreien und weg sein. Unten im Dorf. In einem kühlen Raum mit sechzehn Litern Apfelsaft. Ohne den Unfall.
Irgendwie machen wir weiter. Unter anderem auch, weil wir nicht einfach stehen bleiben können. Außer uns ist niemand da. Die anderen Wanderer sind wahrscheinlich durch die Blah-Täler gelaufen, die ich nicht gehen wollte, weil dieser Weg doch so viel spannender aussah. Oh, zur Hölle damit.
Es sind gefühlte tausend Stunden in Gluthitze vergangen, als wir endlich das Seeköpfle erreichen. Eine besonders hohe Stelle auf dem Grat mit einem weiteren Gipfelkreuz. Ich schaue nach unten und flippe komplett aus. Ein kleiner, blauer See, schöner als auf jeder Postkarte, liegt auf einer grünen Almwiese am Rande einer Schlucht. Der Seealpsee. Eine Aussicht, die ich erst viel später auf dem Weg erwartet hatte.
Plötzlich ist sie da. Ich schlage mir die Hand vor den Mund und habe Tränen in den Augen. Alles ist durcheinander. Angst, Panik, Erschöpfung, Begeisterung, Adrenalin und eine der schönsten Aussichten, die ich je gesehen habe. Minutenlang stehen wir einfach nur da. Wow.
Leider ist die Gratwanderung damit nicht vorbei. Noch drei weitere, kleine Gipfel liegen vor uns. Zwei davon sind überhängend zum Abgrund hin. Wie mein Freund das mit seinem Fuß macht – keine Ahnung. Aber er macht es. Wir haben kaum noch Wasser und meine Haut platzt gleich wie die Hülle einer zu heißen Bratwurst. Dann verlieren wir auch noch kurzzeitig den Pfad und versuchen, durch eine Geröllschneise wieder nach oben zum Grat zu klettern.
An einem Punkt liegt nichts vor mir außer einem senkrechten Stück Wiese. Die Steine unter meinen Füßen fangen an, zu bröseln.
„Okay, Gras“, sage ich leise. „Ich weiß, das ist keine gute Idee, aber halt mich jetzt einfach, ja?“ Ich mache die Augen zu und greife mit beiden Händen so viele Grashalme wie möglich. Dann ziehe ich mich hoch.
Es hält.
Ich krieche zurück auf den verlorenen Grat.
Nach fast acht Stunden kommen wir wie Zombies an der Bergstation an. Den Gipfel schaffen wir nicht mehr. Aber das ist inzwischen vollkommen egal. Wir sind noch da. Mit allen Gliedmaßen.
Ich wanke an Frauen in Sandalen mit Strohhüten vorbei, die gerade aus der Seilbahn steigen. Kreischende Kinder laufen auf einem Spielplatz herum, ein paar Senioren chillen mit Bier unter einem Sonnenschirm an einem Restaurant. Ich komme mir vor, als wäre ich gerade mit der Apollo 13 auf den Mond gecrasht.
Als der Kellner an der Bar fragt, was ich möchte, muss ich das Schieferschild mit den Getränken drei Mal lesen, bevor ich die Buchstaben darauf wirklich verstehe. Dann heule ich fast schon wieder. Als er mir einen halben Liter Johannisbeersaft hinstellt, fange ich an, zu trinken, bevor er meine Karte zum Bezahlen durch das Lesegerät ziehen kann. Absolut alles in diesem Moment ist surreal.
Eine Stunde später fahren wir mit der Seilbahn zurück ins Tal. Ich habe ein Rauschen im Kopf.
Am nächsten Tag sind wir beim Arzt. Zum Glück ist nichts gebrochen, doch es wird einige Wochen dauern, bis der Fuß wieder verheilt ist.
Ich schaue zum Nebelhorn hinauf. „Ich komme wieder“, sage ich und meine damit die nächsten Jahre. „Dann gehen wir durch das Blah-Tal (das in Wirklichkeit Oytal heißt) und bis ganz rauf zum großen Gipfel. Wir sind hier noch nicht fertig.“
Was wir sonst noch so auf unserem Trip in Bayern gemacht haben, erfahrt ihr hier: Paragliding: Einmal in den Himmel und zurück – mit Flugangst.