Das Leuchten der Stille – Herzensort Bighorn Canyon.

15. November 2018

Bighorn Canyon National Recreation Area
Einmal laut schreien und frieren für die Freiheit

Als ich aus dem Haus trete, ist es so kalt, dass mir vor Schreck fast die Nase abfällt. Ich kann sie gerade noch so festhalten und ziehe mir die regenbogenfarbene Mütze in die Stirn, die mir mein amerikanischer Freund geliehen hat. Weil ich meine eigene nämlich schon in Deutschland verloren habe und es Mitte Oktober in den Rocky Mountains verdammt kalt werden kann.

 

Ich verliere übrigens dauernd etwas. An diesem Tag vor allem meinen Verstand. An einem Ort, der zu mir gesprochen hat, ohne ein Wort zu sagen. Ich erzähle euch heute von der lärmenden Stille des Bighorn Canyons, von Seelenverwandtschaft, Unendlichkeit und Momenten, die schweigend das Leben verändern.

 

Ach ja. Auf dem Bild habe ich mir ohne Mütze den Arsch abgefroren, nur um gut auszusehen.

Herz über Kopf durch Wyoming

Highway von Cody in die Bighorn Mountains
Schlafender Elefant. Oder so.

Wir sitzen im Auto und ich versuche, nicht wegen der Kälte zu jammern. Dann schmeißt mein fürsorglicher Freund immer die Heizung an und ich komme mir vor wie eine Memme. Dabei möchte ich dem winterlichen Herbst in Wyoming mit Cowboy-Haltung begegnen und nicht mit der Wimper zucken. Mein Augenlid flattert, weil ich lüge. Hinaus geht es aus der kleinen Stadt mit den Holzhäusern und den schwingenden Ampeln über den viel zu breiten Straßen. Ins Land. Davon gibt es in Wyoming verdammt viel. Der Staat ist nach Alaska der Bundesstaat mit der zweitgeringsten Bevölkerungsdichte. Der graue Asphalt mit der sonnengelben Mittellinie zieht sich wie ein versteinerter Lavastrom durch die steppenartigen Hügel. Und mein Herz fliegt krachend durch die Windschutzscheibe, weil ich es nicht mehr an mich halten kann. Ich liebe dieses Land. Hier habe ich letztes Jahr schon etwas ganz Besonderes gespürt und meine Wiederkehr hat es bisher nicht besser gemacht.

Dunkelgraue Wolken liegen über dem stahlblauen Himmel, erste Bergspitzen zerfetzen den Horizont.

Angekommen in der großen Weite

Wyoming, Reisen, lonelyroadlover
Einmal kurz anhalten und nie wieder gehen - Wyoming

Von der Stadt, in der ich wohne, bis zum Bighorn Canyon sind es mal eben drei Stunden Fahrt. Doch drei Stunden durch Wyoming fahren, ist wie drei Stunden Schokolade essen. Nur, dass einem nicht schlecht wird. Höchstens vor Freude.

 

Kurz bevor das Bighorn Canyon Recreation Area beginnt, färben sich die Felsen langsam rot. Ich habe das immer für Phänomen der südlichen US-Staaten gehalten, muss aber zugeben, dass ich anscheinend keinen Plan hatte. Wie Mousse-Pudding türmen sich die Steinformationen auf, dazwischen knorrige Büsche, dazwischen winzige gelbe Blumen. Dazwischen endlose Weite. Kein Mensch. Als wir das erste Mal aussteigen, möchte ich am liebsten meine Arme ausbreiten und schreien. Und nie wieder aufhören. Ich weiß nicht, ob ihr schon mal das Gefühl hattet, irgendwo angekommen zu sein. Jetzt nicht bei McDonalds oder auf dem Klo, sondern so innerlich. Ich könnte mich auf den Asphalt setzen und stundenlang den einen Grashalm beobachten, der sich gegen den Wind auflehnt und immer wieder neu von ihm angegangen wird.

Lass mal in den Canyon stürzen!

Bighorn Canyon, Montana, lonelyroadlover
Majestätisch: der Bighorn Canyon

Dann fahren wir weiter zum Bighorn Canyon, der das Recreation Area in zwei Teile reißt. Naja, Canyons gibt es in den USA massenhaft. Und irgendwie verblassen die Bighorn Mountains doch dann gegen den Yellowstone Nationalpark. Oder?

 

Als ich dann das erste Mal in die tiefe und breite Schlucht mit dem hellgrünen Wasser sehe, in der sich das Licht wie eine Million Sterne bricht, weiß ich, dass ich komplett verloren bin. Wie ein Kind renne ich am Geländer entlang, deute auf die unfassbar schöne Landschaft und finde doch keine Worte.

„Was denkst du?“, fragt mein Freund.

Ich überlege kurz. „Dass ich mich am liebsten dort runterstürzen würde, um auszudrücken, was ich fühle. Und was Überwältigenderes fällt mir gerade nicht ein.“

Natürlich springe ich nicht. Habe meine Badekappe vergessen. Und Eisklumpen in den Haaren sind uncool.

 

Das gesamt Gebiet ist etwa 500 km² groß und liegt zwischen Wyoming und Montana. Die ersten Spuren von Menschen lassen sich 12.000 Jahre zurückverfolgen.

Seelenverwandtschaft kennt keine Grenzen

Schnee in den Bighorn Mountains, USA
Tor mit Blick zum Schnee

Nachdem wir einen der vielen Trails gewandert sind, entdecke ich von einem Aussichtspunkt aus eine Art Terrasse aus roten Felsen, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vor allem, weil es keinen offiziellen Weg dort hinunter zu geben scheint. „Ich habe so richtig Bock, da jetzt hinzuwandern“, sage ich.

„Dann machen wir das“, sagt mein Freund und geht los. Ich lächele. Einfach mal machen. Einfach mal ein bisschen bekloppt sein. Sechs Stunden lang im Auto durchgehend reden und lachen. Wilde Tiere in den Wolken sehen und 85 Millionen Kilometer fahren, nur damit ich mir einen dämlichen Wasserfall ansehen kann. Die ganze kindliche und hippie-eske Verrücktheit in meinem Kopf spiegelt sich in seinen Gedanken wider. Es ist scheißegal, dass fast 8.000 Kilometer zwischen uns liegen, ein paar Jahre Altersunterschied und eine ganze Kultur. Vor über einem Jahr haben wir uns auf meiner großen, viermonatigen USA-Reise kennengelernt und seitdem durchgehend E-Mails geschrieben. Mit denen ich ganz New York tapezieren könnte.

Ich fand ja den Begriff „Seelenverwandtschaft“ immer etwas anstrengend. Aber es gibt nichts, was es besser trifft.

Der Bighorn Canyon: stiller als die Stille

Bighorn Canyon, Wanderung
Magischer geht es einfach nicht!

Als ich auf dem Weg nach unten dämlich stolpere und mich an einem Ast festhalten will, erkenne ich, dass das Holz irgendwie komisch aussieht. Ich hebe es auf und kann kaum glauben, dass ich Ansätze eines Horns erkenne. Ich schwenke das abgebrochene Stück euphorisch über meinem Kopf und rufe aufgeregt grammatikalischen Schwachsinn in die Landschaft.

Es ist tatsächlich Horn. Von einem Rentier. Das ich nicht gefunden hätte, wenn ich nicht hierher gewollt hätte.

Irgendwann sind wir dann aber tatsächlich mal an dem Plateau angekommen. Ich atme wie ein Nilpferd in meinen dicken Schal und muss mich erstmal setzen. Vor uns erstreckt sich der Bighorn Canyon in mehreren Schleifen. Am Himmel tanzen Sonne und Wolken und lassen die schroffen Kanten wie Marmor wirken. Über der Wasseroberfläche fliegen weiße Vögel, die wie winzige Punkte aussehen.

Mein Freund setzt sich neben mich. Und erst als sich mein Atmen beruhigt, höre ich sie: die schönste Stille der Welt.

„Hast du schon mal über die Unendlichkeit nachgedacht?“

Bighorn Canyon National Recreation Area, Landschaftsfotografie, lonelyroadlover
Wo fängt die Unendlichkeit an und wo endet sie?

Normalerweise weht in den Bergen immer Wind. Irgendein Mensch lacht oder ein Auto fährt vorbei. Zumindest ein Vogel schreit. Immer. Doch hier am Abgrund des Bighorn Canyons ist nichts. Gar nichts. Ich lausche und lausche, weil es mir vorkommt, als hätte mir jemand Ohropax ins Gehör gedrückt. Es kann nicht sein, denke ich. So eine Stille gibt es nicht. Die Sonne lässt das Wasser erst grün, dann braun, dann hellblau erschienen. Ich glaube, wenn ich jetzt rufen würde, dann würde der Ton einfach verschluckt werden von der Magie des Augenblicks.

„Hörst du die Stille?“, flüstere ich.

„Ja“, antwortet mein Freund.

„Hast du schon mal über die Unendlichkeit nachgedacht?“, sage ich dann immer noch leise.

Die nächste halbe Stunde philosophieren wir den Platon aus uns heraus.

Dann lehne ich mich einfach an seine Schulter und wir schweigen. Die Stille ist so gewaltig, dass ich mein eigenes Blut hören kann. Meine eigenen Gedanken. Und Herzen. Mein Blick gleitet an den Wänden des Canyons ab, Stufe für Stufe. Und ich spüre, wie ein Stück meines Lebens abbröckelt und hinunterfällt.

 

Dabei denke ich: “Everything that happens once can never happen again. But everything that happens twice will surely happen a third time.”

(Paulo Coelho, The Alchemist)

Kommentare: 0
Facebook Lonelyroadlover
Pinterest Lonelyroadlover