Der Typ an der Security im Flughafen guckt etwas spanisch auf die Boxen und Fläschchen in meinem Handgepäck. „Darf ich fragen, was das ist?“ Am liebsten würde ich ganz laut „KOKS!“ rufen, doch dann würde ich den Rest des Tages vermutlich in Isolationshaft verbringen, statt im Flugzeug. Also sage ich ihm lieber die Wahrheit. „Das sind meine Medikamente. Ich bin chronisch krank. Ich habe auch ein Attest dabei.“
Er nickt. Dann winkt er mich schon mal vor, schaut aber trotzdem noch mal mit einem Monokel ganz genau auf die Packungen. Ich laufe durch den Scanner. Während ich danach meinen Laptop, meine Kamera und sonstigen Elektromüll, den ich beim Sicherheitscheck einzeln auspacken musste, umständlich verstaue, taucht der Security-Vogel wieder auf. „Darf ich noch fragen, was für eine Krankheit Sie haben?“
Ganz kurz will ich „LEPRA!“, schreien. Keine Ahnung, warum ich manchmal so Gedanken-Tourette habe. Dann sage ich ganz ruhig: „Colitis Ulcerosa. Chronische Darmentzündung. Das ist, wenn-“
„Ja, alles gut!“, ruft der Typ plötzlich und hebt seine Hände. „Gute Besserung!“
Ich muss fast lachen. Einerseits, weil die Reaktion gar nicht so weit von Lepra entfernt war. Andererseits, weil chronisch unter anderem bedeutet, dass es meist unheilbar ist. Da gibt’s keine gute Besserung. Die Laune habe ich mir dadurch von Anfang an nicht vermiesen lassen. Auch nicht meine ausgiebigen Reisen. Langzeitreise mit chronischer Erkrankung – geht. Irgendwo zwischen Vollkrise und Lachanfall.
Wenn ich alle paar Monate zur Apotheke gehe, muss ich eine Ikea-Tüte mitnehmen, so viel Mist hole ich da immer ab. Pulver, Tabletten, Gesöff. Als ich die Diagnose Colitis Ulcerosa bekommen habe, war klar: Das ist nicht nur ein Schnupfen. Colitis Ulcerosa ist die kleine Schwester von Morbus Crohn. Eine Autoimmunkrankheit, bei der der Darm andauernd denkt, er müsste etwas bekämpfen, das gar nicht da ist. In gewisser Weise ist er damit ein Verschwörungstheoretiker. Auf jeden Fall entzündet er sich dadurch permanent selbst und sorgt unbehandelt für so krasse Krämpfe und Durchfälle, dass selbst das Horten von Klopapier nicht helfen würde. Zum Glück gibt es Medikamente. Das sage ich mir immer wieder, wenn ich wegen des ganzen Pulver-Tabletten-Gesöffs kurz vorm Ausrasten bin. Denn es gibt auch Krankheiten, gegen die man gar nichts tun kann. Ich habe also zwar den Schwarzen Peter an der Hand aber immerhin nicht auch noch die Schwarze Acht versenkt.
Wäre ich jetzt ein normaler Mensch mit Durchschnittsleben, dann würde ich mir alle paar Monate meine Medikamente verschreiben lassen, sie abholen und einnehmen – fertig. Bin ich aber nicht. Ich bin reisewütig. Und das an ungefähr sechs Monaten im Jahr. Das stellt mich vor die Herausforderung, wo und wie ich meine Medikamente bekomme und wer eigentlich für den ganzen Mist aufkommt. Denn das Zeug ist dezent teurer als Grippostad.
Mein Arzt ist nicht einfach nur ein Arzt. Er ist Gastroenterologe. Gastro-Ente-was? Egal. Ein Spezialist für Darmerkrankungen jedenfalls. Und er ist auch ein bisschen reiseverrückt. Thank goodness. Denn so muss ich gar nicht lange drum herumreden, dass ich im Sommer für fünf Monate in den USA bin. Sein erster Gedanke ist, dass ich mir die Medikamente aus Deutschland schicken lasse. Doch Medikamente von der EU in die USA zu schicken, ist ungefähr so einfach, wie einen Spaziergang über die Grenze von Nordkorea zu machen. Es benötigt 700 Formulare, hängt dann eventuell einige Wochen im Zoll fest und mit etwas Glück kommt es überhaupt nicht an. Das ist nicht besonders lustig, denn wenn ich den Kram nicht regelmäßig einnehme, bricht die Colitis Ulcerosa wieder völlig unkontrolliert aus und ich lande im Krankenhaus.
Die Auslandskrankenversicherung winkt freundlicherweise auch ab. „Colitis Ulcerosa? Nö, Ihre Erkrankung ist ja schon bekannt. Da zahlen wir nix, wenn Sie die Medikamente dafür im Ausland kaufen müssen.“ Das ist, als würde man versuchen, ein Haus am Rhein gegen Flut zu versichern. Und wenn ich die Medikamente aus eigener Tasche in den USA kaufe? Ach so, da wäre ich dann so bei etwa 900 Euro im Monat. Ja, dann!
Ich bin kurz davor, irgendwas ganz heftig an die Wand zu werfen. Reicht es nicht, dass ich diese Pest am Hals habe, jederzeit einen Rückfall haben könnte und mir diese ganzen Nebenwirkungen antun muss? Ist das hier „Herzblatt“ und habe ich mir das ausgesucht? Ich glaube aber mal nicht!
Was mir bleibt: Ich muss so viele Medikamente wie möglich vorab holen und in irgendeinen monströsen Koffer prömmeln. Mit Attest auf Englisch. Außerdem hoffen, dass man mich nicht für die Drogenmafia hält. In den meisten Ländern ist die Menge an Medikamenten begrenzt, die man einführen darf. „Der Reisedauer angemessen“, heißt es da oft. Na ja, ich bin halt fünf Monate unterwegs. Was soll ich machen!
Am Abend vor der Abreise habe ich einen kleinen Handgepäckkoffer gepackt. Mit Kleidung und allem, was ich für die gesamte Zeit brauche. Daneben ein Monster, das bis über die Kante mit Schachteln voller Tabletten gefüllt ist. Das Attest dekorativ obendrauf. Wie Geschenkpapier. Damit das Biest zugeht, muss ich mich draufsetzen. Mein Papa kommt, um mich zum Flughafen zu bringen. „Was ist das denn?“, fragt er in seiner charmant-offenen Art. Ich rolle mit den Augen.
Einige Stunden später sitze ich Amsterdam am Flughafen. Der Check-in hat geklappt und niemand wollte wissen, was in dem bescheuerten Koffer ist. Ich hole zwei silberne Tütchen mit Pulver heraus. Die muss ich jeden Morgen einnehmen. Unter anderem. Als ich sie mir in den Mund schütte und mit Wasser runterspüle, glotzt mein Sitznachbar am Gate. Koks, denke ich zum ersten Mal und verschlucke mich fast vor Lachen. Es soll ein Running Gag werden.
Am Flughafen in Minneapolis werde ich natürlich rausgefischt. Wenig später stehen drei Homeland-Security-Typen um meinen aufgeklappten Koffer. 2,10 Meter große Kerle, Schultern wie Betonblöcke. Ich kriege einen Schweißausbruch nach dem anderen. Wie gut, dass Colitis Ulcerosa bei mir durch Stress getriggert wird. Am Ende sind aber offenbar gar nicht meine 300 Tonnen Medikamente das Problem, sondern irgendein wirrer Eintrag in einem alten Reisetagebuch, den sie sehr phantasievoll interpretiert haben. Das ist allerdings eine andere Geschichte, die jetzt hier zu weit führt. Zu den Medikamenten bekomme ich nur den Spruch: „Steht ja alles hier auf dem Attest. Das ist schon okay.“ Aufatmen!
Der gesamte Sommer danach wird sehr entspannt. Noch nehme ich Kortison. Ein Medikament, das Entzündungen wie ein Wunder verschwinden lässt. Leider hat es tolle Nebenwirkungen wie bröselige Knochen, Papier-Haut, Bluthochdruck, Magengeschwüre, Schlaflosigkeit und dass man aufquillt wie ein Schwamm. Außerdem unterdrückt es das Immunsystem (damit es sich nicht verschwörungsmäßig grundlos selbst angreifen kann), weshalb man anfälliger für sämtliche andere Krankheiten wird. Doch aktuell gibt es noch kein anderes Medikament, das bei einem akuten Schub von Colitis Ulcerosa hilft.
Ein weiterer Nachteil von Kortison ist, dass man es nicht einfach wieder absetzen darf, weil die Erkrankung dann plötzlich noch stärker wieder aufflammen kann. Man muss es „ausschleichen“. Also Woche um Woche etwas weniger nehmen. Damit es der Körper nicht merkt. Wie eine Katze, die heimlich immer einen Zentimeter näher an die Tüte mit dem Trockenfutter schleicht. Ach ja: Einnahmezeit ist zwischen 6 und 8 Uhr morgens. Besonders cool, wenn man acht Stunden Zeitverschiebung managen muss und nach 30 Flugstunden nicht unbedingt um 7 Uhr wieder aus dem Bett fliegen wollte. Gebrauchstipp an andere Zeitzonenwanderer: Ich habe damals jeden Morgen 15 Milligramm Kortison als Tabletten eingenommen. Rund um die Zeitverschiebung habe ich mir dann einmal 7,5 Milligramm zum „deutschen 7 Uhr“ und noch mal 7,5 Milligramm zum „amerikanischen 7 Uhr“ eingeworfen.
Etwas über ein Jahr ist es her, seit ich mit Colitis Ulcerosa diagnostiziert wurde. Seitdem bin ich ungefähr acht Monate gereist und der nächste Trip steht trotz Corona schon in den Startlöchern. Was ich nicht mehr kann, ist einfach spontan fröhlich losziehen. Ich muss immer daran denken, frühzeitig meine Medikamente zu ordern, genügend abzuzählen und mich um ein Attest zu kümmern, wenn ich ins Ausland möchte. Außerdem muss ich manchmal ungewollt runterfahren, um Stress zu vermeiden und darauf hören, wann mein Körper mir Warnsignale schickt.
Das Wichtigste ist aber: Die Krankheit und ich sind keine Gegner. Sie ist bloß wie ein nerviges Teenagerkind, das einem herbe auf den Sack geht, aber doch immer zur Familie gehören wird. Wenn ich reise, reist sie mit. Denn: Langzeitreisen mit chronischer Erkrankung – in manchen Fällen geht das.
ADH (Mittwoch, 23 Juni 2021 01:29)
Reisen mit einer chronischen Erkrankung sind zwar etwas aufwändiger in der Planung, aber gut machbar.
Ich brauch aufgrund meiner kaputten Lunge (ich hab nur noch einen Lungenflügel), eines angeschlagenen Herzens nach einem längeren Herzstillstand und ein paar anderer Macken seit mittlerweile 30 Jahren diverse Medis, darunter auch tagtäglich Kortison, sowie ein Sauerstoffgerät.
Und wir sind trotzdem ständig auf Reisen, neuerdings auch 6 - 8 Monate am Stück und es klappt hervorragend.
Und zum Kortison - damit lebe ich nun, wie schon geschrieben, seit rund 30 Jahren, die Nebenwirkungen sind m.E. zu vernachlässigen.
Bröselige Knochen, Papier-Haut, Bluthochdruck, Magengeschwüre und Schlaflosigkeit können auftreten, müssen aber nicht, gleiches gilt für das "Aufquellen".
All dem kann man nämlich recht gut entgegenwirken durch gesunde, darauf abgestimmte Ernährung und viel Bewegung - so habe ich das bisher gut im Griff behalten.
Also - Kopf oben behalten und die nächste Reise planen!
Janis (Sonntag, 25 April 2021 19:45)
Habe grade deinen Blogbeitrag gefunden – sehr schön geschrieben und zeigt einmal mehr, dass man mit der ganzen Misere nicht alleine ist. Ablehnung von int. KVs oder PKVs, Kopfschmerzen um Bezug im Ausland, Möglicherweise kühlungspflichtigen Kram transportieren... unendlich...
Lonelyroadlover (Samstag, 06 Juni 2020 19:45)
Hi Peter!
Vielen Dank - von Herzen. Das fucking Thema ist echt einfach immer irgendwo zwischen "das schaffe ich schon" und "ich breche". Aber du hast recht, anders lässt sich das nicht ertragen. Überhaupt. Das ganze Leben. Ohne Humor geht der Mist nicht!
Liebe Grüße
Sarah
Don Pedro (Samstag, 06 Juni 2020 00:05)
Sarah, ich zolle Dir ganz großen Respekt. Dieses fucking Thema so zu handeln, ist wahrlich eine Gratwanderung.
Du machst das toll und mit Humor.
Anders lässt sich der "Autoimmunscheißendreck" gar nicht ertragen.