Mein Gesicht fühlt sich an wie ein Aal, der über Nacht im Gefrierschrank war, meine Füße sind Schwämme und eigentlich weiß ich gar nicht mehr so genau, in welche Richtung wir überhaupt laufen. Nebel, überall ist Nebel. Und Moor. Wir sind unterwegs auf Englands Coast to Coast Trail – drei Wochen Fernwanderung, 330 Kilometer zu Fuß von der Irischen See zur Nordsee. Jedenfalls hoffe ich das, denn der Regen fegt uns horizontal in die Augen, der Boden ist voller knie- und hüfthoher Sümpfe und die Sicht ist Null. Gehen wir vielleicht schon im Kreis?
Wir stehen auf der Nine Standards Rigg, wo neun Steinhaufen aufgereiht sind. Ich verstecke mich im Windschatten von einem von ihnen, um ein paar Bilder zu machen, ohne dass der Sturm meine Kamera nach Ägypten weht oder die Linse sofort vom Starkregen gesandstrahlt wird. „I’m taking a few photos real quick!“, rufe ich meinem Freund zu, der geduldig in der Apokalypse steht. Ich schieße immer Fotos, denn falls wir unsere Blödsinnstouren überleben, kann ich danach auf meinem Blog oder Instagram darüber schreiben. Übelste Prioritäten, während man mit den Füßen im schlammigen Boden versinkt.
Wie wir da wieder rausgekommen sind, fünf Tage Kornfelder und Dauerregen überwunden haben und am Ende mit lila Heideteppichen und Glamping am Meer überrascht wurden – jetzt hier.
„Wir gehen heute die grüne Route über die Straße im Tal“, sagt eine Gruppe Norweger, die wir auf dem Weg treffen. „Auf der blauen Route oben auf dem Berg ist gestern jemand bis zur Hüfte im Moor versunken.“
Eine Warnung, die uns hätte zu denken geben sollen, denn Norweger sind normalerweise so tough, dass sie erst einen halben Elch roh zum Frühstück essen, um dann 50 Kilometer in unter 20 Minuten wandern.
Wir entscheiden uns für die mittlere, rote Route. Die führt auch über den Berg, aber vielleicht ist das Moor da ja nicht hüfttief. Über die Straße im Tal latschen kann ja jeder – ha!
Kurz darauf stehen wir vor einer Brücke. Oder dem, was von ihr übrig ist. Still liegt sie zur Hälfte unter braunem, undurchsichtigen Wasser. Ich stecke mal testweise meinen über einen Meter langen Wanderstock in die Brühe und finde keinen festen Grund.
Wir tapsen eine Weile ratlos herum, bis wir einen Umweg finden, bei dem wir über morsche Bretter springen und uns irgendwie halbwegs trocken auf die andere Seite retten.
Hätten wir uns aber sparen können, denn kurz darauf verschluckt uns eine fette Wolke und schießt für die nächsten Stunden waagerechte Wände aus eiskalten Regentropfen auf uns. Oben auf dem 662 Meter hohen Gipfel machen wir eine kurze Pause an den Nine Standards.
Neun vier Meter hohe Steintürmchen, von denen keiner genau weiß, wann sie gebaut wurden oder wieso. Zum ersten Mal namentlich erwähnt wurden auf einer Karte, die auf 1738 datiert ist. Ich gehe mal stark davon aus, dass die jemand aufgestellt hat, um den Regengott um Gnade anzuflehen. Interessiert den Gott aber wohl nicht.
Der Weg bergab wird zu einem ziemlichen Desaster. Stunde um Stunde kämpfen wir uns Meter für Meter durch den dichten, eisigen Nebel, stochernd nach kleinen Flecken Erde suchend, die nicht sofort nachgeben und metertief einsinken. Wie früher auf dem Weg zur Grundschule, wo ich manchmal auf dem Bürgersteig aus Spaß von Stein zu Stein gesprungen bin, tapse ich auf Grasflecken und Steinen herum.
Meine Füße sind trotz wasserdichter Wanderschuhe und Gaiters (Gamaschen, die man sich über
Beine und Schuhe zieht, damit kein Wasser von oben in die Schuhe laufen kann – haha) triefend nass. Jeder Schritt klingt, als würde ich auf Schwämmen, statt Füßen laufen. Über zehn
Kilometer straucheln wir herum, mein Freund landet ein paarmal fast knieftief in brackigen Flüssen.
Nach siebzehn Kilometern insgesamt kommen wir schließlich am Abend in unserer Unterkunft im
Dörfchen Keld an. Ich bin so fertig, dass ich bei den letzten sieben Häusern entlang des Wegs jedes Mal frage „Ist das jetzt die scheiß Unterkunft?“
Wir pröffeln unsere gesamten Klamotten in den Trockenraum der Pension und gehen essen. Alter, wenn wir jetzt auch noch zelten und mit einem Gaskocher hantieren müssten, würde ich mich kopfüber ins Moor stürzen. Ich bin so müde, dass ich mir fast die Gabel mit der Veggie-Lasagne ins Auge steche. Alles tut weh, alles fühlt sich aufgequollen an.
„Vielleicht nehme ich gleich mal eine Ibuprofen“, sagt mein Freund hoheitsvoll. Oh mein Gott, dann muss es wirklich schlimm sein. Aber wir haben es geschafft – nicht nur das Moor, sondern an dieser Stelle auch die Hälfte des Coast to Coast Trails. Obwohl wir über-müde sind, sind wir auch ein bisschen stolz und auf seltsam erschöpfte Weise zufrieden.
In den kommenden Tagen wird das Wetter nicht besser, aber immerhin ist der Boden wieder
stabil. Vom Yorkshire Dales National Park mit seinen jahrhundertealten Trockensteinmauern, Ruinen und grünen Hügeln geht es ins Flachland zu inspirierenden Kornfeldern,
Kornfeldern und Kornfeldern. Jeden Morgen sind nach ein paar Kilometern unsere Füße wieder nass. Regen trommelt auf unsere Regenjacken und Köpfe. Die Kamera bleibt weitestgehend im Rucksack.
Die gute Laune auch. Dieser Teil der Strecke wird definitiv nicht mein Highlight.
Aber muss immer alles ein Highlight sein? Was ist unterwegs überhaupt ein „Highlight“? Sicher für jeden etwas anderes. Ein tolles Foto, eine grandiose Aussicht, eineinteressanter Mensch, den man trifft, Tiere, eine Blume, gutes Essen, eine gemütliche Unterkunft, schönes Wetter, das Überwinden von Ängsten oder gesundheitlichen Problemen, das Finden von Inspiration und neuem Mut.
Fünf Tage lang jeden Tag 15 Kilometer durch Dauerregen laufen, testet meine Geduld. Etwas, von dem ich sowieso nicht viel habe. Ich kann nicht weg und einfach in ein Auto steigen, denn das wäre Schummeln. Da musst du jetzt durch, sagen wir oft. Nicht immer ist das eine gute Idee, nicht immer sollten wir uns zu Dingen zwingen, die uns dauerhaft nicht guttun. Aber manchmal muss man tatsächlich durch etwas durch – und diese Regentage helfen mir, zu verstehen, dass eine schöne Feder in einer Pfütze jetzt mein Tageshighlight ist – und dass das auch okay ist. Weil wir auch diese Tage schaffen und dann die Sonne wieder scheint.
Das tut sie tatsächlich. Auf den letzten 50 Kilometern durch den North York Moors National Park (der überraschenderweise auf unserem Trail kein Moor beinhaltet!), scheint nicht nur die Sonne, sondern blüht auch die Heide.
„In der App steht soon you will pass tons of heather”, lese ich meinem Freund vor.
Er schaut skeptisch. “Tons of heather?“ Neben ihm blühen vereinzelt ein paar Sträucher.
Doch tatsächlich befinden wir uns kurz darauf zwischen violetten Teppichen aus Kraut, die links und rechts neben dem Pfad wuchern.
„Tons of heather!“, rufe ich triumphant.
Ein Ausdruck, der uns bis zum Ende des Trails für Blödeleien dient.
Als ich im Hotel eine große Kanne Tee bekomme, ist es natürlich tons of tea, als wir zwei Pilze in der Wiese entdecken (die ersten, die wir überhaupt sehen), sind es tons of mushrooms und am Strand lauern tons of seagull auf mein olles Sandwich.
Nach 19 Tagen, an denen wir täglich zwischen 14 und 22 Kilometer gelaufen sind, erreichen wir Robin Hood’s Bay. Den Endpunkt des Coast to Coast Trails. Die Straße ins Dorf führt steil bergab, überall Touri-Buden und tons of people mit kleinen, käffenden Hunden. Es ist laut und ungemütlich.
Der Wanderweg endet abrupt im Meer. Der Asphalt läuft bröckelnd in der 15 Grad kalten Nordsee aus, daneben rumpelt ein Bagger. Der einzige Hinweis auf das Ende des Trails befindet sich an der Wand eines Pubs. Eine winzige Holztafel. Hm. Wir bestellen einen heißen Kakao mit Marshmallows und Sahne.
„Marshmallows und Sahne sind aus“, grunzt der Barkeeper unfreundlich.
Was hatten wir erwartet? Einen Triumphbogen und Feuerwerk? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich hier wegwill
Wir haben ein paar Kilometer weiter im Inland eine kleine Hütte beim Glamping-Outpost Coast & Camplight gebucht. Versteckt zwischen hohen Gräsern, mit Lagerfeuerstelle, Hängematte und Holzofen. Dort ist Stille. Der perfekte Ort, um zu verstehen, dass wir es tatsächlich gemacht haben, tatsächlich geschafft haben. 330 Kilometer zu Fuß durch England. Etwas, von dem mein Freund immer geträumt hat.
Als das Feuer knistert und eine Eule über uns schu-hut, fühle ich mich frei und leicht und glücklich.
Mein Highlight ist, dass wir hier sind. Zusammen. Und immer diese Erinnerung an dieses
Wanderabenteuer haben werden.
Welche Verrücktheiten und Unruhen uns auf dem ersten Teil des Trails aufgelauert haben, findet ihr hier: Streiks, Platzwunden und unverhoffte Berge – Coast to Coast Trail England I.