Eis und Schnee. Das kenne ich aus Deutschland! Wenn ich mir ein Banana-Split bestelle und später noch das Tiefkühlfach abtaue. Ich schaue auf den Kalender. Wenn ich meinen Freund im Februar nicht in Wyoming besuche, dann sehe ich ihn eine ganze Weile nicht. Wenn ich meinen Freund im Februar in Wyoming besuche, werde ich mit mittleren Erfrierungen und Eispickeln im Gesicht in die Charité eingeflogen. Bis zu minus 20 Grad wird es dort gelegentlich zwischen Oktober und April. Was soll das. Kann der Vogel nicht in Kalifornien wohnen?
In geistiger Umnachtung buche ich einen meiner amüsanten 25-Stunden-Flüge von Düsseldorf nach Amsterdam über Salt Lake City bis Billings.
„Es wäre praktischer, wenn er in New York leben würde“, konstatiert mein Papa. „Dann wären es nur zehn Stunden!“ Arschkalt wäre es vermutlich trotzdem. Und außerdem hat mein Herz nicht nach praktisch gefragt, als ich mich verliebt habe.
Ich packe meine sieben Sachen und ziehe los. Zu klirrenden Eisschollen in 300 Metern Tiefe, einer Schneewanderung, bei der mir fast das Bein abgefallen wäre und einem Ewigkeitsbeweis, der jeden Ehering blass aussehen lässt.
Der Bighorn Canyon in Montana. Ein massiv unterschätzter Ort, der im Schatten von Yellowstone steht. Was in Europa die Attraktion des Jahrhunderts wäre, ist im magischen Land der tausend Naturwunder nur ein umgefallener Sack Reis. Dabei ist der Zusammenfluss zweier grüner Ströme am Devil’s Canyon Overlook in 300 Metern Tiefe mehr als beeindruckend. Ich bin das erste Mal im Winter hier. Ob wohl Eis im Canyon ist? Ach Quatsch. Als ob solche Wassermassen jemals gefrieren würden!
Wir fahren auf den kleinen Parkplatz und ich beuge mich im schneidenden Wind über den Abgrund. Mein Freund hält mich fest. Er denkt immer, ich könnte wegfliegen. Dabei wiege ich fast 48 Kilo und könnte locker eine Staubfluse von links nach rechts bewegen, wenn ich etwas trainieren würde.
„Da ist Eis!“, schreie ich gegen den Sturm. Aber vor allem aus Begeisterung. Dicke Schollen von mehreren Quadratmetern liegen wie Glasscherben von einer überdimensionalen Scheibe flach und klirrend in der Schlucht. Das ist möglich, weil es in der Nähe eine Staumauer gibt, weshalb das Wasser nicht besonders schnell fließt und so bei einigen Nächten zweistellig unter null gut vereist.
„Ice in the Canyon!“ Ich werde verrückt. Auf dem weiteren Weg kriege es dann einfach nicht mehr aus dem Kopf: Ice in the Canyon! Fire in the sky…!
Am nächsten Tag sind wir auf dem Weg nach Casper. Nein, das ist kein holzfällender Cowboy in einer Schneehütte, der uns in kurzen Ärmeln zum BBQ eingeladen hat. Es ist eine Stadt im Westen von Wyoming, die flockige 350 Kilometer von unserem Zuhause entfernt liegt. Doch es ist gar nicht so einfach, im bevölkerungsärmsten Bundesstaat der USA einen vernünftigen Tätowierer zu finden, der auch noch nebenan wohnt. Denn nebenan wohnt im Zweifel erstmal lange Zeit überhaupt keiner.
Sowohl in Düsseldorf, als auch in Dortmund und Bremen leben mehr Menschen als in Wyoming. Dortmund ist allerdings 208 km² groß und Wyoming 253.348 km². Ja, jetzt wäre ein guter Moment für einen Schnaps!
Wir haben den Inkspot in Casper recherchiert und waren von den Arbeiten begeistert. Schon seit anderthalb Jahren, als wir nur beste Freunde waren, haben wir über ein gemeinsames Tattoo gesprochen. Ich habe elf Tattoos und mein Freund keins. „Aber ich wollte in meinem ganzen Leben schon immer eins haben“, sagte er damals, als wir gemeinsam im Auto saßen. Die Meinung hat sich nicht geändert. Nur wissen wir jetzt, dass es eine ganz andere, tiefere Bedeutung haben wird, als bloß Freundschaft.
Schon auf dem Hinweg schneit es wie bekloppt. „Vielleicht kommen wir heute Abend nicht mehr nach Hause“, philosophiert der untätowierte Platon neben mir.
„Scheißegal“, sage ich. „Wenn die Welt untergeht, hast du wenigstens noch einen Punkt von deiner Bucket List.“
Wir beschließen, dass das ziemlich vernünftig klingt!
In Casper betrachtet unser Tätowierer Seth uns genau. Mein Freund bekommt das Tattoo am Oberarm. Ich nicht. Ich bin schon alt und verbraucht und habe keinen Platz mehr. Deshalb muss meins auf die Schulter. „Besonders fies ist es direkt am Knochen“, erkläre ich, während mein Freund auf dem Todesstuhl sitzt und Seth die Nadel ansetzt.
„Kannst du jetzt mal die Klappe halten“, sagt er und grinst.
„Nein. Du weißt doch, dass schon mein Professor meinte, ich rede wie ein Maschinengewehr“, erwidere ich und schaue danach streng und schweigend an die Wand, was meinen Freund bloß zum Lachen bringt. „Bitte den Kopf geradehalten“, gebietet Seth und versucht, sich zwischen uns Nervensägen zu konzentrieren.
Nach vier Stunden sind wir beide fertig. „Na, das war ja fast nichts“, sagt mein Freund fröhlich.
„Nichts“, murmel ich und kriege kaum den Arm nach oben, um meine Jacke anzuziehen. Besonders fies ist es direkt am Knochen.
Wir haben das gleiche Motiv, allerdings gespiegelt. Einen Mond, der für uns eine ganz persönliche Bedeutung hat, ein Gebirge für Bergliebe und Heimat, zwei Tannen, die miteinander verwurzelt sind und einen kleinen Ballon der Distanz und Reiselust symbolisiert. Dieses Tattoo ist etwas, das für immer bleiben wird. Egal, was passiert.
Und obwohl wir total zugeschneit werden, schaffen wir es in nur fünf Stunden auch wieder zurück. Ganz ohne Weltuntergang.
Am vorletzten Tag machen wir noch einmal eine Wanderung. Eine Wanderung ist bei uns kein popeliger Spaziergang und fängt gar nicht erst unter zehn Kilometern an.
„Ich nehme mal die Schneestiefel mit“, sage ich. „Vielleicht liegt ja was.“ Und wie da was liegt! Der gesamte Bighorn Canyon ist verschneit. Nicht nur Ice in the canyon and fire in the sky…
Wir treten eine Rundwanderung zum Rand des Canyons an, die nach etwa zwei Kilometern in einem halben Meter Schnee endet. Also für normale Menschen.
„Das geht schon!“, sage ich und hebe mein Bein für jeden Schritt wie ein Storch. Das Klima in Wyoming ist viel trockener als in Deutschland und der Schnee viel mehr wie Koks. Pulver! Pulver wollte ich sagen! Meine Güte.
Nach wenigen Metern spüre ich meine Beine kaum noch und meine Knie brauchen dringend eine Prothese. „Wir können jederzeit zurückgehen“, beruhigt mich mein Freund, der seltsamerweise schon wieder zwanzig Meter voraus ist.
„Ach was“, erwidere ich, wobei eine verdächtig lange Atempause zwischen ach und was liegt. Rund fünf Kilometer stapfen wir durch den Schnee. Mein Gesicht glüht und meine Beine sind taub. Das wird ein Spaß morgen! Aber ich lebe ja, als wäre kein Morgen. Dann geht’s ja noch. Belohnt werden wir mit einem weiteren, tollen Blick über Ice in the Canyon. Dann sehen wir noch eine beinahe mystisch anmutende Herde von Bighorn Sheep. Als ich endlich meine Kamera klarhabe, zeigen mir die Viecher geschlossen den Hintern. „Am Arsch. Das habe ich verstanden“, murmele ich.
Was ich nach zwei Wochen im Winter von Wyoming noch sagen kann: Es ist überwältigend schön. Die minus 20 Grad habe ich kaum gespürt. Dafür aber jede Menge Herzklopfen und Abenteuer.
An einem Tag haben wir eine irre Tour mit dem Schneemobil im Yellowstone National Park gemacht. Hautnah vorbei an majestätischen Bisons, einem hundert Meter hohen, gefrorenen Wasserfall und dampfenden Hotsprings. Hier findet ihr den Bericht Im Auge des Bisons: Mit dem Schneemobil durch Yellowstone.