Paris, Boulevard de Sébastopol, 30 Grad um 21 Uhr. Neonlichter, Musik, quietschende Reifen, warmer Asphalt, Gewürze in der Luft. Wir sind angekommen. Am Startpunkt unseres Roadtrips durch die Normandie. Eine kurze Nacht in Paris, dann holen wir am nächsten Tag das Auto ab. Obwohl der Thalys-Zug vom Ruhrgebiet bis in die französische Hauptstadt für gerade mal 35 Euro durchfährt und sehr bequem ist, sind wir tot. Unser eigentlich gebuchtes Hotel war überflutet, weswegen wir spontan mit unseren Koffern quer durch Paris rattern mussten, wo wir nun über einem dubiosen persischen Restaurant residieren. Egal. Ich schütte kaltes Wasser in mich hinein, während Alex – mein Freund – einen heißen Crêpe in einem Streetfood-Laden isst. Es ist 22 Uhr und noch immer 28 Grad warm. Auf uns warten in den kommenden Tagen bunte Dörfer, historische Burgen und Ruinen, knorriges Fachwerk und Erdbeeren statt Pommes.
Der Typ von Europcar fuchtelt mit einem BMW-Schlüssel vor meiner Nase herum und faselt etwas von „Upgrade“. Leider kenne ich dieses besondere Upgrade schon durch meine vergangenen Roadtrips. Ich nickte bedächtig, grinse und sage: „Well … but no.“ Wir nehmen unseren knallroten Fiat 500 und peilen das Navi erst einmal auf Rouen. Als Hauptstadt der Region Normandie ist sie eine der größeren Städte in einer sonst sehr ländlichen Gegend. „Was, 500 Kilometer und acht Stunden?“, brülle ich, während wir in den irren Verkehr von Paris donnern. Quatsch. Das GPS denkt einfach nur, wir wären noch in Deutschland. Es dauert nicht lange, da steht die echte Route nach Rouen. Wir vermeiden die lärmenden Autobahnen und nehmen stattdessen die kleinen Landstraßen durch die Dörfer. Ich feiere kurz innerlich, als wir den Großraum Paris verlassen, ohne die Vollkaskoversicherung in Anspruch zu nehmen. In Frankreich sind nämlich 99 Prozent aller Autos auf irgendeine Weise verbeult, verkratzt oder komplett zerstört.
Bald ziehen hellbraune Häuser aus großen Steinblöcken mit blauen Holzfenstern und pinken Stockrosen an uns vorbei. Immer wieder blitzt die Seine zwischen den blühenden Hecken auf. Die Architektur zeigt einen charmanten Mix aus Italien, Belgien und den Niederlanden. Und irgendwer hat hier mit der Gießkanne prachtvolle Chateaus und gemauerte Kirchen verteilt. Außerdem schaukeln in jedem Dorf kleine Blumenampeln an den Laternen und Ortseingängen. Liebe zum Detail bekommt hier eine ganz besondere Bedeutung. Leider knallt immer noch die Sonne wie in der Sahara und wir sterben zwischendurch kurz auf der Terrasse eines Cafés im Schatten einer Burgruine bei einer 4-Euro-Cola. Außerdem will einfach kein Mensch hier Englisch verstehen. Wenn das die Weltsprache ist, sind wir auf dem Mars.
Am nächsten Tag erkunden wir Rouen. Nachdem ich 800 Beweisbilder vom unversehrten Zustand unseres Autos auf dem städtischen Parkplatz gemacht habe, stürzen wir kopfüber in tiefe Häuserschluchten aus buntem Fachwerk. Rote Balken mit gelben Fenstern, orangefarbenes Holz mit hellblauen Laternen. Dazwischen himmlische Bäckereien, Kopfsteinpflaster und Kathedralen mit düsteren Eingängen wie kunstvolle Grotten. Rouen hat rund 110.000 Einwohner und existierte schon rudimentär in der Römerzeit. Größte Berühmtheit ist die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc, die 1431 hier verbrannt wurde. Und zwar auf dem Marktplatz, an dem wir am Abend Pizza essen. Wobei meine ironischerweise einen verkokelten Rand hat.
Wenn ihr einen Trip nach Rouen plant, dann lasst den Stadtplan am besten zu Hause. Es macht Spaß, sich hier einfach treiben zu lassen und die vielen verwinkelten Gassen zu entdecken. Fußkrämpfe inklusive. Besonders beeindruckend sind der große Uhrenturm mit seinem goldenen Zifferblatt und die Kathedrale von Rouen, die so riesig ist, dass selbst mein Weitwinkel-Objektiv überfordert ist. Ein Tag reicht aber aus, um alles zu sehen.
Deshalb fahren wir danach auch hinaus aufs Land und folgen der sich durch die Kornfelder schlängelnden Seine bis nach Jumièges. Vorbei an tiefrotem Klatschmohn, goldenen Ähren und dunkelgrünem Mais. In Jumièges stehen die Ruinen einer beeindruckenden Abtei, die während der Religionskriege zerstört wurde und in der Französischen Revolution sogar als Steinbruch benutzt wurde. Bei den Revolutionären gab es wohl noch kein TripAdvisor.
Steinern recken sich die massiven Türme ohne Spitzen in den blauen Himmel. In sämtlichen Gebäuden der Anlage fehlen die Dächer. Der Boden ist mit Wiese bedeckt, einige Säulen liegen zerbrochen auf dem Boden. Und dennoch strahlen die Überreste eine majestätische Macht aus, in deren Gegenwart ich mich wie eine Ameise fühle. Manchmal fällt es schwer, zu begreifen, welche verrückten Bauwerke in welch verrückten Dimensionen Menschen erschaffen haben. Ohne Kräne und Bohrhämmer. Tauben gurren und neben mir schwebt eine weiße Feder herunter. Frieden in der Ruine.
Wir schmeißen unsere Sachen in die Koffer und die Koffer ins Auto. Es geht weiter. Zum Meer. Nach Étretat. Die Luft wird angenehmer und noch immer ist uns niemand in den Kühler gekachelt. Es könnte schlimmer kommen. Als wir in Dieppe über eine Kuppe fahren und ich das türkise Wasser sehe, das bis zum Horizont reicht, bin ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Wie immer, wenn ich an die Küste fahre. Wellen, Möwen, Strände, Liebe. Étretat ist ein kleines Seebad mit etwa 1400 Einwohnern, das sehr an ein friesisches Dörfchen erinnert mit kleinen Restaurants, Backstein, Blumen und Fischern. Doch die Idylle wird überragt von den massiven Kreidefelsen, die einen großen Teil der Küste der Normandie säumen. In Étretat sind sie jedoch besonders schön – denn die Erosion hat drei fabelhafte Tore in den weißen Stein gefräst. Grüne Wellen schlagen gegen die rund 70 Meter hohen Felsen. Ich ziehe den salzigen Wind tief in meine Lungen, während die Kieselsteine unter meinen Füßen knirschen. Während wir einen ganzen Tag lang über die Klippen wandern, verbrennen unsere Gesichter unbemerkt bei scharfem Wind unter der Sonne.
Müde landen wir am Ende wieder an der Promenade, wo ich großen Appetit auf Pommes habe. Alex bestellt einen Crêpe mit Karamell und ich sage erschöpft „Fries please!“ Großer Fehler. Erwarte niemals, dass dich hier irgendjemand versteht. Nicht mal in Touristenhochburgen. Der Kerl am Stand legt zwei Crêpes auf uns schaufelt anschließend zu meinem Entsetzen Erdbeermarmelade in einen, um ihn mir anschließend zu reichen. „Pommes?“, murmele ich matt und schaue Alex an. Auf der Tube mit der Marmelade steht „Fraise“. Erdbeere.
Nachdem ich missmutig das süße Zeug gemümmelt habe und wir noch etwas Zeit totgeschlagen haben, geht endlich die Sonne unter und malt gold-weiße Streifen auf die Steilhänge, während die Flut heranrollt. Laut polternd reißen die Wellen die großen Kiesel am Strand zurück ins Wasser. Ich lausche dem Klang, bis der glühend rote Ball am Horizont zwischen rauchigen Wolken verschwindet.