Der Zug schießt durch die Toskana, vorbei an dunkelgrünen Zypressen, die wie Kerzen in den blauen Himmel ragen. Kleine Steinhäuser liegen auf den Kuppen goldener Hügel und die klassischen Muster von Weinbergen zeichnen sich an den Hängen ab. Wir fahren mit der Bahn von La Spezia über Pisa nach Florenz. In Italien sind die Zugverbindungen zwischen den großen Städten schnell, gut und günstig. Außerdem spart man sich damit die verschissene Maut, die an jeder Ecke mit ihren Klauen nach dem erstbesten Autofahrer greift.
Den Nachmittag haben wir in Pisa verbracht, wo ein einziger Tag definitiv ausreicht, um die wichtigsten Dinge – darunter natürlich den Schiefen Turm – zu sehen. Wir haben übrigens kein beklopptes Foto gemacht, bei dem wir den Turm mit der Hand aufrecht halten. (Das haben die 250 anderen Touristen um uns herum schon getan, was in so gehäufter Anzahl ziemlich skurril aussah). Nachdem mir die Klimaanlage im Abteil fast einen Gefrierbrand auf die Knie gezaubert hat, steigen wir abends in Florenz aus. Es ist noch angenehm warm Mitte September und über der gesamten Stadt liegt ein bronzefarbener Schimmer. Was ich noch nicht weiß: Nur wenige Tage später werden wir in Neapel landen und einen harten Schlag ins Gesicht bekommen.
Während meine beste Freundin Dani noch mit den schweren Fensterläden kämpft, packe ich meinen Koffer aus und schieße fast die Flipflops unter das Bett mit dem Kissen, das auch ein Ziegelstein sein könnte. Ansonsten ist unsere Wohnung in der Altstadt jedoch fantastisch gelegen und beinahe kommt es uns so vor, als würden wir schon eine ganze Weile in Florenz leben. Die Stadt summt, klingt und leuchtet von Innen heraus. Zwischen den prachtvollen Kirchtürmen verschwindet das Kopfsteinpflaster unter den Staffeleien zahlreicher Straßenmaler, die fantastische Kunstwerke aus Öl, Acryl und Wasserfarbe auf ihre Leinwände werfen. Nur eine Minute von unserer Unterkunft entfernt liegt die Kathedrale von Florenz, deren grünliche Verzierungen auf der weißen Fassade wirken wie symmetrische Blumenranken. Sie wurde 1436 geweiht und verschlägt uns beim Betreten des Platzes einfach nur den Atem. Die Schönheit der gewaltigen, roten Kuppel ist von hier unten aus der Ameisenperspektive kaum zu erkennen.
Dazu solltet ihr – am besten zur Zeit des Sonnenuntergangs – zum Piazzale Michelangelo hinaufsteigen, von dem aus ihr eine grandiose Sicht auf Florenz und vor allem den Dom habt. Der Zugang ist kostenfrei. Naja, das ist etwas gelogen, denn er kostet euch die Atemluft der nächsten drei Tage und etwa einen Liter Schweiß. Außerdem seid ihr da oben nicht gerade allein. Aber es lohnt sich unwahrscheinlich, zumal sich im Viertel unterhalb des Aussichtspunkts die Wirkungsstätte des Straßenkünstlers Clet befindet, der Verkehrsschilder mit seinem ganz eigenen Humor versieht und sogar einen kleinen Laden mit Aufklebern und Postkarten betreibt. Auf dem Weg zwischen dem Dom und der Aussicht liegt Arno. Nein, das ist niemand, der beim Aufstieg verreckt ist, sondern der breite Fluss, der durch Florenz dümpelt. Über den Arno führen zahlreiche Brücken – aber eine davon ist ein ganz besonderer, architektonischer Schatz: die Ponte Vecchio. Sie ist die älteste Brücke in Florenz und auf ihr stehen Häuser. Kein Scherz! Wenn ihr sie von Weitem seht, dann erscheint sie wie ein Bauwerk aus Lego, in das jemand bunte Steine und kleine Fenster gebastelt hat.
Seit 1345 befinden sich an beiden Seiten der Brücke kleine Läden, deren Eingänge ihr auf dem Fußweg von einem Ufer zum anderen erreichen könnt. Wenn ihr dabei nicht von den Touristenmassen plattgetrampelt werdet und als Flunder im Fluss landet. Ganz früher waren in den Läden mal Schlachter ansässig. Heute sind es ausschließlich Juweliere. Es hat sich also kaum was getan. Wir werfen ein paar Blicke in die Fenster auf Klunker, an denen verdächtiger Weise keine Preisschilder hängen. Mit der Masse an Schmuck könnte man einen ganzen Wald aus Weihnachtsbäumen behängen. Wir beschließen, unsere Kreditkarten nicht zum Teufel zu jagen und verweilen stattdessen eine gefühlte Stunde an einem Postkartenladen, an dem wir 300 sehr ähnliche Motive manisch vergleichen. Später stellt sich heraus, dass die sonnengetränken Fotos, die wir vom Piazzale Michelangelo aus schießen, die Postkarten ohnehin abscheißen lassen.
Apropos Postkarten: In Italien gibt es seltsamerweise zig Post-Systeme. Neben der offiziellen Post mit ihren roten, traditionellen Briefkästen, gibt es noch andere Anbieter wie GPS, deren Papp-Boxen ihr wiederum nur an Souvenirständen findet. Es ist im Grunde egal, wo ihr welche Briefmarken kauft und welches System ihr damit nutzt – nur werft sie unbedingt dann in den dazu passenden Kasten, sonst wird das nix (wobei es in Italien auch sein kann, dass das generell nix wird mit der Post).
In die Uffizien schaffen wir es leider aus Zeitgründen nicht. Stattdessen bewundern wir eine Reiterstatue auf dem Piazza della Signoria, auf deren Kopf eine Taube sitzt und der Lage irgendwie den Ernst nimmt. In der Gasse Borgo dei Greci direkt hinter dem Platz finden wir einen fabelhaften Laden mit historischen Globen, Miniaturbüchern, Landkarten, Ferngläsern und kunstvollem Briefpapier. Kein Mensch braucht da noch Schmuck – wir werfen unsere Kreditkarten einfach hier hinein! Das Geschäft heißt Signum Firenze und natürlich verlassen wir es nicht ohne Tüten und Papprollen im Rucksack. Ich freue mich besonders über eine Weltkugel, die die Erde zur Zeit der Entdecker in der Renaissance zeigt.
Am Abend machen wir noch einen kleinen Spaziergang durch die warm erleuchtete Stadt, der zu einer zweistündigen Wanderung ausufert. Etwas außerhalb landen wir fast auf der Kifferparty einiger Jugendlicher am Arno. Ja, auch das zauberhafte Florenz hat ein paar Ecken, die man sich klemmen kann. Insgesamt jedoch fällt uns der Abschied nach nur anderthalb Tagen schwer (plant also lieber gleich drei bis fünf Tage für Florenz ein!) und ein Hauch von künstlerischem Sternenstaub hängt uns auch im Zug nach Neapel noch an den Kleidern.
Allerdings nicht sehr lange. Als wir dort am Hauptbahnhof aussteigen, dröhnt ein permanentes, aggressives Hupkonzert von den Straßen Neapels an unser Ohr. Obwohl wir jede Zugabe vehement ablehnen und uns nachts sogar Ohropax ins Gehör stopfen, gibt das Orchester des Smogs in den kommenden Tagen keine Ruhe. Während sich blaue Abgase in unserer Lunge ablagern und Dani mit dem Koffer getrocknetem Urin ausweicht, blicke ich kurz noch einmal auf das Schild vor dem Bahngelände. Steht dort wirklich „Napoli Centrale“ oder „Kalkutta Centrale“? Die hohen Gassen mit den beschmierten Wänden lassen kaum Sonnenlicht auf den Asphalt. An den abblätternden Fassaden hängen Knäule aus Kabeln, während sich Menschen über den allgemeinen Lärmpegel eines deutschen Autobahnkreuzes ruppig anschreien. Sie streiten sich allerdings nicht, sondern unterhalten sich nur. Wir flüchten erst einmal in unsere Wohnung an der Altstadt und versuchen, uns bei plörrigem Rotwein von dem Kulturschock zu erholen. Abends wagen wir einen Spaziergang in das historische Viertel. Neapel gilt allgemein als gefährlich und wird oft mit Kriminalität und Gewalt assoziiert. Davon merken wir selbst im Dunkeln nichts, aber ansehnlicher wird es dadurch auch nicht. Es ist wie bei einem schlechten Date – das kann man sich einfach nicht immer schön trinken.
„Irgendwie hat das doch alles hier auch seinen eigenen Charme!“, versuche ich es schließlich nach einer Weile. Tatsächlich ist die morbide Atmosphäre, die Missachtung sämtlicher Kulturgüter und die flatternde Wäsche über den Gassen etwas, das mich auf eine seltsame Weise fasziniert. Ich reise nicht, um Urlaub zu machen und ausschließlich Schönes zu sehen, sondern die echte Welt – so wie sie eben ist. Dani schaut mich schief an. „Charme?“
Ich bleibe dabei. Es ist bittersüßer Charme, der versucht, einen mit Reizhusten aus der Stadt zu jagen; der aber zugleich so ehrlich und unverstellt ist, dass ich mich über diesen bereichernden Eindruck freue. Wie verschieden ein einziges Land sein kann. Die Menschen, die Mentalität, das Leben. Wie sehr Armut sich in allen Bereichen unseres Lebens widerspiegeln kann, denn Neapel siecht eindeutig seit Jahren vor sich hin und lebt von der Substanz vergangener Tage. Wir laufen an den Ständen mit frittierten Reisbällchen und Puddingplätzchen vorbei und umschiffen einen überlaufenden Müllcontainer, um zum Castel Sant’Elmo zu gelangen. Die Festung liegt oberhalb der Metropole und verursacht schon wieder Atemnot aufgrund der vielen Stufen zur Spitze.
Von oben gelingt uns ein Blick auf die malerische Kulisse hinter der Stadt – das Meer mit dem gewaltigen Vesuv. Könnte das alles nicht die Truman Show sein? Fernab des Molochs entfalten sich kleine, bunte Gassen mit Katzen, Blumen und Laternen. Das Donnern des wilden Verkehrs (der mindestens genauso irre ist wie in Paris!) verklingt wie das leise Störgeräusch eines Autoradios bei geöffnetem Fenster. Von hier oben wirkt alles so ruhig und weit weg. Einzelne Schiffe treiben auf dem klaren Blau und am Horizont steht keine Wolke. Doch fühlt sich alles so an, als wäre es falsch und bloß eine Flucht vor der Realität.
Nachts knallt es in unserer Gasse plötzlich heftig. Keiner von uns denkt jedoch ernsthaft an eine Schießerei, denn die meisten Horrorgeschichten um unsichere Städte entstehen bloß durch Filme und vereinzelte Vorkommnisse, die in den Medien besonders herausgestellt werden. Ich werde hier ebenso wenig von der Mafia niedergestochen, wie ich in Chicago erschossen oder in New York überfallen wurde. Kurz darauf sehen wir rote, grüne und blaue Schatten an den Hauswänden. Feuerwerk. Die Neapolitaner haben bloß beschlossen, dass mitten in der Woche um halb eins nachts eine fabelhafte Zeit ist, um die historischen Fassaden weiter zu ruinieren.
„Charme?“, fragt Dani süffisant. Ich gebe mich geschlagen: „Dieser Charme kann mich langsam mal!“
Lonelyroadlover (Freitag, 21 September 2018 16:34)
Dankeschön, liebe Magdalena! :)
Wie schön, dass es dir in Florenz ähnlich ergangen ist vom Gefühl her. Es scheint aber auch schon ein Weilchen her zu sein bei dir - vielleicht solltest du mal wieder hin. ;)
Ach herrje! Ja, da ist es mit Ruhe usw. einfach nicht so weit her. Zum Teil finde ich es ja auch mal entspannend, dass nicht immer alles so bierernst genommen wird wie in Deutschland. Aber manchmal ist es dann doch zu viel...
Und ja, ich fand es auch ganz schön krass in Neapel. Ich hatte wirklich nicht mehr das Gefühl, in Europa zu sein...
Liebe Grüße,
Sarah
Magdalena (Mittwoch, 19 September 2018 09:02)
Erfrischend - wie immer! :)
Bei dem Abschnitt über Florenz musste ich kurz die Augen schließen und mich an meine Florenz-Trips erinnern, denn genauso habe ich die Stadt auch erlebt. Nur Signum Firenze kenne ich nicht, aber dafür war ich wohl in den Teenager Jahren auch einfach zu jung.
In Neapel war ich noch nicht, aber dass man nachts um halb 1 zu einem Feuerwerk wach wird, kenne ich auch aus Spanien. Meine Freundin wohnt in einem kleinen Dorf, da wird den ganzen Sommer immer etwas gefeiert. Da gibt es das Feuerwerk auch gerne mal um 3 Uhr morgens. Und dann um 7 Uhr direkt wieder die Marschkapelle durch die Gassen - herrlich. Nicht.
Dass man in Neapel jedoch mit der Armut so direkt konfrontiert wird, war mir nicht bewusst. Das regt zum Nachdenken an.
Viele Grüße
Magdalena