Mein Rucksack ist so schwer, dass ich ihn auf die Kante des Kofferraums stemmen muss, um dann irgendwie meine Schultern von unten unter die Gurte zu klemmen. Ich blicke mich auf dem heißen und sandigen Parkplatz um, während mein Freund unseren „Backcountry Permit“ an seinen eigenen 12-Kilo-Rucksack tackert. Ein „Backcountry Permit“ ist die Erlaubnis, im Hinterland eines Nationalparks in den USA mehr oder weniger wild zu campen.
Vor uns steht der Grand Teton, der mit 4.199 Metern höchste Berg im Grand Teton National Park, wie eine Wand. Grau wie ein fetter Elefant. Ich schwöre, der blöde Klotz lacht über uns. 18 Kilometer zu drei Seen wollen wir wandern. Mit 1.000 Metern Höhendifferenz. Auf einem Pfad, auf dem ich letztes Mal dreiundzwanzigeinhalb Blasen an den Füßen und Magenkrämpfe zum Abgöbeln hatte – und das nur mit einem leichten Tagesrucksack.
Also setze ich mich als Erstes mal auf einen Baumstamm und klebe meine Füße prophylaktisch ab. „Ich weiß nicht, ob wir dafür genug Pflaster dabeihaben“, merkt mein Freund an.
„Ich nehm auch Malerkrepp“, sage ich.
Dann geht’s los.
Zu einem kreisrunden Paradies aus Wasser und Steinen, zu Bären-Boxen, zu einem türkisen Gletschersee, zu Schweiß, Flüchen und gigantischen Felsbrocken – und zur schönsten und vollkommensten Spiegelung der Welt.
Mit einer langen Wanderung ist es wie mit einem Stundenplan. Erst ist fröhlich Kunst und Musik angesagt, dann Frühstückspause, dann analysiert man ein Gedicht, das man nicht rafft, und in der letzten Stunde ist Mathe und man kackt so richtig ab. Na gut, es gibt auch Leute, die Mathe gut finden. Aber ich bin die Fraktion, die im Supermarkt bei der Aufgabe Fünf Bananen kosten fünf Euro, wie viel kostet eine? den Grimme-Award für totale Inkompetenz in doppelten Payback-Punkten ausgezahlt bekommt.
Anyway. Die ersten zwei Meilen fühlen sich gut an. Wir laufen durch schattigen Wald mit hohen, dunkelgrünen und spitzen Tannen. Zwischendurch schimmert die elefantengraue Spitze des Grand Tetons durch die Zweige. Ich mache aufgeregt Fotos.
„One last photo?“, fragt mein Freund mit einem Grinsen. Wenn es nach ihm ginge, wären wir in derselben Zeit schon drei Mal auf dem Everest und dem K2 gewesen. Er ist der Daniel Düsentrieb unter allen Wanderern. Und er ist fast so alt wie der Berg!
Kurz darauf mündet der moderate Weg in todbringende, staubige Serpentinen, die einfach nie wieder aufhören. In der sengenden Hitze des Pulsars am Himmel, den der gemeine Astronom Sonne nennt.
Ich stemme meine Hände unter den 12-Kilo-Sandsack auf meinem Rücken, mit dem man ganz Köln vor der Rheinflut retten könnte. Was soll’s. Wenn man in der Wildnis zeltet, braucht man unter anderem ein Zelt, einen Schlafsack, eine Isomatte, Kocher, Essen, Zahnbürsten, Sonnencreme, warme Kleidung für kalte Nächte und vor allem Wasser. Viel Wasser. Besonders wegen des Pulsars und den 1.000 Höhenmetern.
„Jetzt kommen nur noch die neun kleinen Serpentinen!“, ruft mein Freund fröhlich, während ich auf einem Stein sitze und innerlich fluche. Immerhin habe ich keine Blasen. Ob Moses auch eine Isomatte und Sonnencreme hatte, als er 40 Jahre in der Wüste war? So ein Blödsinn!
Wir gehen weiter.
Nach fünf Stunden erreichen wir endlich die Ebene, in der wir unser Zelt aufschlagen wollen. Im Wald oberhalb des Surprise Lakes, dem ersten der drei Seen, befinden sich einige primitive Camp-Flächen. Nicht mehr als Sand und Schotter. Und eine Metall-Box, in der man sein Essen und seine Zahncreme sicher gegen Bären einschließen kann. Denn die riechen alles. Und dann kommen sie und fressen nicht nur das Essen und die Zahnpasta, sondern auch die Besitzer. Kein Scherz. Das ist kein Ostsee-Camping hier.
Es gibt weder fließendes Wasser, noch Klos oder Feuerstellen. Hier draußen bist du allein und ganz bei dir. Es ist wunderschön und schrecklich wild zugleich.
Als das Zelt steht, laufen wir zum Surprise Lake. Grün und kreisrund liegt er zwischen einem gähnenden Abgrund und der plötzlich sehr nahen Spitze des Grand Tetons, hinter der das Abendlicht bläulich schimmert wie eine schwache Gasflamme. Dann wandern wir noch 400 Meter zum etwas höher gelegenen Amphitheater Lake, der dunkelgrau und mit zitternden Wellen in einem Talkessel wogt. Goldenes Licht, das sich jede Sekunde verschiebt, liegt über der gesamten Bergkette. Es ist wie eine Hologramm-Postkarte.
Mein Freund und ich umarmen uns. Lange. Was für ein Tag, was für eine Leistung.
„Deine Augen sind genauso blau wie der See“, sage ich. Seltsamerweise finde ich es ziemlich einfach, auf Englisch romantisch zu sein. Auf Deutsch klingt immer alles entweder so abgehackt wie eine militärische Anweisung, oder es ist gleich totaler Heidi-Kitsch.
Dann verziehen wir uns zu unserem 5-Sterne-Zeltplatz und kochen uns gefriergetrocknetes Zeug, das mich ungefähr so sehr vom Hocker haut, wie Pommes, die in zehn Jahre altem Öl frittiert wurden. Aber es ist halt leicht. Und das ist alles, was beim Backpacking zählt.
Als es dunkel ist, sitzen wir in Jacken eingemummelt auf einem umgestürzten Baumstamm, trinken heiße Schokolade und schauen in den Himmel. Ein Stern. Exakt über uns. Ein Ein-Sterne-Zeltplatz. Und es könnte nicht schöner sein.
Am nächsten Tag renne ich aufgeregt zum Surprise Lake. Zum einen muss ich mal aufs Klo, das sich in Form einer großen Tanne vor mir auftut, und zum anderen will ich das Morgenlicht sehen! Mein Freund folgt mir etwas praktischer veranlagt mit unserem Wasserfilter, denn wir müssen uns für den Abstieg und den Abstecher zum dritten See, dem Delta Lake, vorbereiten und haben nicht mehr genug Trinkwasser. Das filtern wir jetzt aus dem See.
Als ich am Ufer ankomme, erstreckt sich der Grand Teton in rötlich-gelbem Licht in den blassblauen Himmel. Und zugleich auf exakte Weise ins Wasser des Sees. Eine Spiegelung, wie sie nicht perfekter sein könnte. So surreal, dass ich ein Steinchen ins Wasser werfen muss, um zu sehen, ob sich der See nicht heimlich in eine Glasfläche verwandelt hat. Wie ein Gemälde liegt der Surprise Lake in der Senke, dekoriert mit einem Diadem aus Bäumen, mit hingewürfelten, abgestürzten Felsbrocken auf einer hellgrünen, sanften Wiese und überzogen von goldenem Morgenlicht, das lautlos in die Stille des Wassers zu fließen scheint. Es ist ein Moment, in dem man nie wieder atmen möchte, weil man Angst hat, dass die Landschaft vor einem in tausend Scherben zerspringt.
Deshalb bin ich hier draußen. Deshalb habe ich mich für dieses Leben entschieden. Für Momente wie diese. Die einem niemand jemals wieder wegnehmen kann. Und wenn, dann ist es der Tod – und dann ist es auch egal. Weil man vorher gelebt hat.
Die Abzweigung zum Delta Lake vom Haupt-Trail ist bloß 750 Meter lang. Allerdings sind wir vorgewarnt, dass es sehr steil, rau und anstrengend werden soll.
Und genau so ist es. Mit unseren Sandsack-Rucksäcken beladen kriechen wir über riesige Felsklötze, die jemand senkrecht in den Berg gesteckt hat. Und der Pulsar ist auch wieder da. Ich schwitze so sehr, dass mich jeder Bär im Umkreis von 100 Meilen riechen könnte. Nicht mal eine dreifach versiegelte Bär-Box würde mich retten. Scheiß Delta Lake!
Leider habe ich im Internet Fotos vom See gesehen. Türkis. Mit einer Bergkulisse zum Ausflippen. Das muss jetzt klappen. Ich versuche, das meinen Knien zu sagen, die sich mehr und mehr in Pudding verwandeln. Nach knapp einer Stunde (für 750 Meter, just saying!) erreichen wir eine Kante. Als ich darüber schaue, kann ich kaum glauben, was ich sehe.
Direkt vor uns auf Augenhöhe liegt ein matt-blauer Gletschersee, umrahmt von den monumentalen Bergen der Grand Tetons. Ich schmeiße meinen Rucksack weg – okay, ich streife ihn irgendwie jammernd von meinen zerstörten Schultern ab – und rase – okay, krieche – auf einen Felsen direkt am Wasser. Dann werfe ich meine Schuhe weg und gehe ein paar Schritte ins eiskalte Wasser. „Oh mein Gott, es ist so unfassbar schön hier! Das ist nicht real!“, rufe ich meinem Freund zu und fuchtele mit den Armen wie ein Pinguin.
Drei Seen, drei Tage – wir übernachten noch ein weiteres Mal am Fuß des Berges – und 18 Kilometer. Elf Stunden schlafe ich am nächsten Tag zu Hause, als wir zurück sind. Ich würde es jederzeit wieder tun. In dieser Natur, mit meinem Lieblingsmenschen, in diesem Leben.