Gibt es etwas Deutscheres, als Spazierengehen? Gut, vielleicht Kartoffeln.
Was habe ich Spazierengehen früher gehasst als Kind. Wenn meine Eltern mich rausgezerrt haben, in horrendem Mittelgebirgsregen bei fünf Grad – nur, um um die gleichen zehn Häuserblocks und den gleichen blöden Wald zu laufen wie immer. Wozu soll das gut sein? „Frische Luft und Bewegung!“, kam dann immer. Boah, nerv. Kann man das nicht wo machen, wo es interessant ist? Im Phantasialand oder in einem Spielpark?
Was ich damals nicht wusste: Ich hatte Tomaten auf den Augen und Gurken in den Ohren. Ich habe nichts gesehen, nichts wahrgenommen, bin einfach missmutig mitgetrottet und war froh, als wir wieder zu Hause waren. Ich habe das Spazierengehen nicht verstanden, weil ich nicht wusste, worauf es ankommt.
Es ist das Hinsehen. Die Details. Das Riechen. Die Sinne. Das Da-Sein. Bewusst und im Jetzt. Wenn ich heute, etwa dreißig Jahre später rausgehe, mache ich oft nichts anderes als das olle Spazierengehen. Wenn es länger dauert, nenne ich es Wandern. Aber jetzt sehe ich Moose und wie unterschiedlich weich oder grün sie sind. Ich sehe Tannenzapfen und Pilze, ich rieche Frühling und Herbst, ich spüre die Abendsonne und sehe Licht durch trockene, braune Blätter leuchten wie bei einer warmen Laterne. Gluckert da nicht ein Fluss und ist da nicht der Fußabdruck von einem Waschbären im Matsch? Was hängt denn da an der Hauswand und wie schön ist dieser Stromkasten bemalt?
Hier ist „How to Spazierengehen“ – aber richtig:
„Tritt nicht in die Pfütze, fass das nicht an, das ist dreckig!“ – nein, ich bin definitiv nicht in einem Abenteuer- und Wildnis-Haushalt aufgewachsen. Ich war als Kind eine Kleinstadtpflanze in einem zubetonierten Rinnstein. Ich hätte gern (wie so viele Kinder), aber durfte selten. Rausgehen war für mich mit Kälte, Regen, Wohnstraßen und gähnender Langeweile verbunden. Oft war ich in Gedanken meilenweit weg in Fantasie-Geschichten in meinem Kopf. Hingeschaut habe ich kaum. Bloß weg hier.
Spannender waren da die Ausflüge mit meinen Großeltern. Einmal bin ich mit meinem Opa in einen Buchenwald gegangen. Vorher hatten wir zu Hause gemeinsam eine Schatzkarte gemalt – naja, ich hab eher gekrickelt, aber immerhin war das rote X richtig groß und gleich hinter einem grünen Dreieck, das ich „Piratenberg“ genannt habe. Wir zogen also los und mein Opa interpretierte meine Karte anhand von echten Wanderwegen. Zwischendurch – und ich weiß bis heute nicht wie – hat er golden eingepackte Werther’s Bonbons zwischen Wurzeln und in Baumhöhlen gedropped. Und plötzlich fand ich echte Schätze! Boah ey!
Mit meinen anderen Großeltern hab ich oft Schnitzeljagd gespielt. Meine Oma und ich haben Papierschnitzel in den Wald gehängt und mein Opa musste dann nachkommen und uns finden. Einmal haben wir uns so gut in einem Kreis aus Büschen versteckt, dass er uns nicht gefunden hat und dann einfach Kaffeetrinken gegangen ist, weil er keinen Bock mehr hatte. Ich weiß noch bis heute, wie vorwurfsvoll meine Oma war („Du hättest uns hier auch einfach sitzen lassen!“).
Ein anderes Mal sind wir einen Weg gegangen, auf dem jemand Schutt abgeladen hatte. Der ganze Weg war voller bunter, zerbrochener Tonscherben, die sich mit der Zeit in den Waldboden eingegraben hatten. Ich hab wie verrückt nach den Tonstücken gebuddelt und später hat mein Opa eine frische Spachtelplatte gemacht, in die ich die Scherben zu einem Mosaik aus einer Insel mit Palme gedrückt habe. Die Platte steht noch heute, leicht verwittert, am Gewächshaus meiner Großeltern.
Was also macht das Spazierengehen, das Draußensein, interessant? Sicher nicht das achtlose Vorbeirennen oder das Vermeiden von Berührung und Schmutz. Im Gegenteil – es ist das achtsame Hinsehen und das Anfassen, das Ausprobieren. Wie fühlt sich das Laub an? Die Erde? Ist das Wasser kalt? Was hängt denn da für eine schöne Dekoration an dem Haus? Was steht auf den vielen bunten Aufklebern am Ampelmast?
„How to Spazierengehen“ fängt mit offenen Augen an. Mit Neugier. Und damit, dass man wirklich da ist und nicht ständig aufs Handy glotzt, Sprachnachrichten macht oder nur wegen der Mahnung auf der Fitness-Watch noch schnell 5000 Schritte durch den Wald rast.
Spazierengehen bedeutet Verlangsamung und der Weg als Ziel. Als Kind habe ich oft gefragt: „Wozu ist denn Spazierengehen gut? Man läuft doch nur im Kreis!“ Aber es geht nicht darum, wie schnell man wo ankommt, sondern was man sich unterwegs erlaubt, zu erleben, zu sehen, zu riechen, anzufassen. Ohne es abzupflücken oder plattzutrampeln. Mit Respekt und Ehrfurcht – mit der Begeisterung eines Kindes, das etwas zum ersten Mal sieht.
Genau diese kindliche Freude ist es, die zurückkommt zu uns. Wenn wir runterschalten und naja… halt spazieren. Mal nach links schauen, mal nach recht schauen, mal nach oben zu den Wolken und der Sonne. Stell dir einen vielleicht altmodischen Cartoon vor, wo jemand beschwingt mit einem gefalteten Schirm und Hut entlang einer Baumreihe spaziert. Genau so.
Wer jetzt nicht so genau weiß, wie und wo er das Spazierengehen anpacken soll: Eine Kamera hilft, endlich aufzustehen, rauszugehen und etwas zu entdecken. Ist fast wie ein Hund.
Und es spielt keine Rolle, ob es eine Spiegelreflex oder die Handykamera ist. Wer Fotos machen möchte, schaut hin und achtet auf Licht und Details. Risse im Boden, Graffiti an der Wand, Schafswolle am Weidezaun. Stell dir eine Challenge mit Bildern, die du nach dem Spaziergang im Kasten haben möchtest. Fünf Fotos von unterschiedlichen Blättern, zehn Details von Asphalt, drei Blumen, sieben Gesichter in Wolken und Baumrinden, fünf Fensterrahmen… Egal. Hauptsache, du schaust hin.
Denk dir eine Route aus, auf der es kleine Schätze zu sehen gibt. Vielleicht ein buntes Geländer, eine Brücke über einem Bach, ein Vogelhaus, ein knorriger Baum. Bring Freunde und Familie mit und gib ihnen eine Tour. Zeige ihnen, was du gefunden hast, und lass sie sehen und wundern.
Mach ein Spaziertagebuch. Versuche, dir unterwegs Eindrücke zu merken, Gegenstände oder Pflanzen, die du interessant fandest, Gerüche von Blumen, eine Hummel. Schreib auf, was du gesehen, gerochen und gefühlt hast. Beschreib es. Mal was – krickeln ist auch in Ordnung.
Halte es fest. Und dann geh wieder raus und spaziere mehr. Es gibt noch so viel zu entdecken!
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