Einmal zum Sonnenuntergang am Hollywood Sign stehen. Den Wind in den Haaren, die Sonne im Gesicht und etwas Einhornstaub im Herzen. Nicht irgendwo unten, wo das Schild die Größe von Telefonbuchschrift hat. Sondern so nah, wie es geht. Das muss doch zu machen sein!
Gleich vorweg: Nein, man kann die Buchstaben nicht anfassen und sich auch nicht draufsetzen wie in einigen romantisch-verklärten Filmen. Der Mist ist Hochsicherheitszone mit Stacheldraht. Weil sich die Spezies Mensch mal wieder nicht zusammenreißen konnte und rumvandaliert hat. Wenn ihr jetzt ein komisches Geräusch vernehmt, ist es das Rollen meiner Augen.
Das Hollywood Sign ist wie ganz Hollywood und Los Angeles eine marode Kulisse, die versucht, Glitzer in die Augen der Betrachter zu streuen. In den 70er Jahren zerbröselten die Buchstaben beinahe, weil vergessen wurde, das Material wetterbeständig zu lackieren. Das erste O brach ein und sah danach aus wie ein U. Das dritte fiel irgendwann einfach um. Welcome to HULLYWO D.
Mit dieser Geschichte, die etwa so professionell klingt wie der Bau des Berliner Flughafens, mache ich mich auf den Weg, um dem Mythos Hollywood Sign so nah wie möglich zu kommen. Grandioser Weise passt mein Plan zur Geschichte des Schildes: Undurchdacht und vollkommen beschallert. Was ich bei 34 Grad in endlosen Staubwüsten und in völliger Dunkelheit ohne Akku in den Hollywood Hills gemacht habe. Und wie zwei Flugbegleiter mich retten mussten.
Es ist 16 Uhr. Ich sitze am Griffith Observatory und schaue auf meine Karte. Google Maps zeigt mir, dass es einen Fußweg vom Observatorium durch die Hollywood Hills zu einem Punkt gibt, der genau oberhalb des Hollywood Signs liegt. Auf meiner großen Soloreise durch die USA 2017 habe ich das Schild schon einmal von weiter unten gesehen. Kann man machen – aber beim zweiten Mal ist es kalter Kaffee.
Es sind rund vier Kilometer vom Observatorium mit seinen prächtigen Kuppeln bis zum äußersten erlaubten Randgebiet des Signs. Vier Kilometer. Pf. Vor ein paar Tagen bin ich 27 Kilometer durch die Grand Tetons gewandert. Was sind da schon die Hollywood Hills!
Ich fülle meine Wasserflasche kostenlos am Planetarium auf, werfe mir drei Schichten Sonnencreme ins Gesicht und stiefel los. Einige grüne Schilder verweisen windschief auf Wanderwege. Der Boden ist sandig. Außer niedrigen Büschen, die mir bis zum Knie reichen, gibt es nichts, das die direkte Einstrahlung der Höllensonne auf meine Milz verhindern könnte. Wenn ich langsam und bedächtig gehe, klappt das schon. Die Sonne geht um 19:30 Uhr unter. Kein Grund, zu rasen.
Gut, dass „langsam“ und „bedächtig“ nicht in meinem Wortschatz vorkommen. Ich stampfe den ersten Hügel hinauf und renne wie ein Huhn mit der Kamera hin und her, weil man plötzlich einen verdammt tollen Blick auf das Griffith Observatory und die Skyline von Los Angeles hat.
Dann höre ich Deutsche. Aus dem Ruhrgebiet. Auch nach vier Monaten in den USA höre ich das zehn Kilometer gegen den Wüstenwind. Sie bieten mir an, ein Foto von mir vor der Szenerie zu machen. Dann fragen sie, ob ich auch zu „dem Aussichtspunkt“ will und deuten auf einen kleinen Vorsprung in kurzer Entfernung.
„Nee, ich will zum Hollywood Sign.“
„Von hier aus?!“, fragt das Pärchen, als hätte ich gerade erklärt, barfuß zum Nordpol zu wandern.
„Ja, das sind nur vier Kilometer“, sage ich leichthin.
Einige Minuten später schaue ich auf die Karte und sehe, dass die dort eingezeichneten Wegen nichts mit der Realität zu tun haben. Ich bin immer noch über drei Kilometer von dem verkackten Schild entfernt. Ich beschließe, einen Trampelpfad zu nehmen, der die nervigen Serpentinen für Senioren abkürzt und mit einer Steigung von 37 Prozent direkt auf den Gipfel führt. Von dem aus ich einfach nur noch den gesamten Hügelkamm entlang gehen muss bis ich auf das Hollywood Sign treffe.
Ich schnaufe wie ein Nilpferd die Vertikale hinauf und atme Staub und heiße Luft ein. Meine Lunge brennt, meine Augen kleben und ich schwitze wie irre.
Einige Meter weit entfernt steht eine kleine Steinbank. Darauf der wahnsinnig komische Spruch: „Hey, how ’ya doing?“
„Willst du mich verarschen?“, schnaube ich.
Nach einer kurzen Pause und mehreren tiefen Zügen aus meiner Wasserflasche starre ich in die unendliche, braune und trostlose Weite des Weltraums. Die Hollywood Hills sehen etwa so blühend aus wie der Mond nach einem Angriff der Romulaner. Und sie sind kein schmaler Hügelkamm. Sondern ein ewiges Meer aus felsigen Dünen. Vielleicht wandern sie sogar. Die Wanderdünen von Hollywood. Bevor ich komplett der Fata Morgana der Westküste verfalle, wandere ich weiter. Ohne Karte. Was soll’s. Das Hollywood Sign sehe ich ja eh von hier. Ist es nicht schon signifikant näher gekommen? Ich starre durch die flimmernde Luft. Eine Mücke nähert sich mir, fliegt dann aber wieder weg. Abgeschreckt von meinem 70 Zentimeter dicken Panzer aus Staub, Sonnencreme und Schweiß.
Nachdem ich drei Mal in einer Sackgasse gelandet bin, stehe ich mit knallrotem Kopf auf einer Geröllpiste mit Wurzeln und potenziellen Klapperschlangen. Mein Wasservorrat ist zu einer traurigen Pfütze am Grunde meiner Flasche zusammengeschrumpft. Ich blicke wieder auf die Karte und schicke meinem Freund in Wyoming eine Nachricht und ein Foto vom Stand der Dinge.
Was machst du schon wieder? fragt er, als er mich mit Dreck im Gesicht und glühenden Wangen zwischen Dornen und gleißendem Sonnen-Todesstrahl sieht.
Keine Ahnung. Wenn ich das wüsste, wäre ich vermutlich nicht hier.
Nachdem ich mich fast direkt neben einem Kaktus so richtig auf die Fresse gelegt hätte, erfassen meine müden Augen den Beginn einer asphaltierten Straße. Wahrscheinlich hätte man auch schnell, einfach und vernünftig hier hochlaufen können. Aber warum, wenn es auch langsam, lebensmüde und bekloppt geht.
Die Sache ist, dass ich meist bloß noch bekloppter werde, wenn etwas nicht klappt. Weil es mich dann nur noch mehr anstachelt, es wirklich zu schaffen. Dementsprechend rase ich mit meinen letzten Lebensgeistern auf der Straße an einer Gruppe anderer Touris vorbei bis ich endlich ganz oben am Hollywood Sign angekommen bin. Ich ersticke und verdurste zugleich und kralle mich mit meinen Fingern in den meterhohen Maschendrahtzaun, durch den ich die riesigen Buchstaben sehen kann. Gleich daneben die massive und pittoreske Sendeanlage für Mobilfunk, Radio und Rettung. Vielleicht kann ich kurz ein Signal funken. SOS oder so.
Fast drei Stunden und acht Kilometer bin ich gelaufen.
Der erste Blick von einem Hügel, an dem sich eine Gruppe Menschen versammelt hat (die nicht so tot aussehen wie ich…), ist enttäuschend. Man sieht bloß ein winziges Stück der oberen Kante des Schriftzugs. Na, für diese miserable Aussicht bin ich aber nicht fast draufgegangen! Ich entferne mich vom Massentourismus und finde weiter rechts eine abgeschiedene Stelle mit einem Stein. Von hier aus habe ich einen fabelhaften Blick auf das Hollywood Sign und ganz Los Angeles. Sogar das verdammte Griffith Observatory sehe ich von hier!
Dann wirft die Dämmerung ihre langen Schatten über das Land. Der Himmel färbt sich erst knallgelb, dann tiefrot und pink. Eine Explosion der Farben, die typisch für die kalifornische Westküste und dennoch einfach unfassbar für das Auge ist. Über den schwarzen Silhouetten afrikanisch aussehender Bäume erscheint weiß die zerbrechlich dünne Sichel des Mondes wie ein Schiff auf offener See. Das Hollywood Sign färbt sich erst orange, dann rosa und, als die Sonne untergegangen ist, silbrig. Los Angeles beginnt, wie ein Diamant zu flimmern. Ich setze meine Kopfhörer auf und schalte auf Lana Del Rey. Die kühle Abendluft legt sich auf meine geschundene Haut. Meine Beine sind rot vor Staub und Dreck. Doch ich bin hier. Über den Dächern Hollywoods. Wo der violette Abendhimmel über einer Metropole aus zerrissenen Träumen und großen Möglichkeiten liegt.
In diesem Moment spüre ich, dass meine jahrelange Unzufriedenheit und Unruhe über mein altes Leben verschwunden ist. Über ein Leben, in dem ich Vollzeit in einem Büro gesessen habe und auch im Privaten so viele Dinge nicht gestimmt haben. Ich spüre im goldenen Schimmer Hollywoods, dass ich endlich das Leben lebe, das ich immer leben wollte. Dass ich angekommen bin. Und noch so viel vor mir liegt, jetzt, wo die Tür weit offen steht. Es ist ein Gefühl, für das ich jederzeit wieder acht Kilometer durch heißen Dreck klettern würde.
Damit ich in der Dunkelheit schnell und unkompliziert nach Hause komme, habe ich mir ein Uber-Taxi vorbestellt. Ich sitze an der Straße und warte. Was ich nicht weiß, ist, dass die Straße viel weiter unten mit einer Schranke versperrt ist und für Privatverkehr geschlossen ist. Als mir nach zwanzig Minuten immer noch keine bestätigte Fahrt angezeigt wird, werde ich unruhig. Es ist inzwischen finster wie die Nacht. Was daran liegen könnte, dass es Nacht ist. Mein Handy hat noch 12 Prozent Akku. Meine Flasche noch 5 Prozent Wasser und mein Körper noch 2 Prozent Energie.
Ich beschließe, zu Fuß den Berg runterzugehen, der Straße folgend. Unterwegs überhole ich ein Paar mit Taschenlampe. Statt mein eigenes Licht zu entzünden und meinem Handy noch mehr Leistung zu entziehen, stolpere ich im Dunkeln durch riesige Schlaglöcher. Mein einziger Plan: Irgendwie runter in die Stadt laufen, um es noch mal mit einem Uber zu versuchen. Was jedoch nur geht, wenn mein Handy durchhält.
Auf einmal stehe ich vor einem Haus. Die Straße scheint dort zu enden. Ich versuche, meine Karte zu öffnen. 7 Prozent Akku. Die Anzeige leuchtet rot. Auf einmal fühle ich mich kalt, durstig, müde und beschissen. Ich fange an, echte Panik zu schieben.
Dann erinnere ich mich an die beiden Personen mit der Taschenlampe und renne zurück. Ich finde sie. Im Schein ihres Lichtkegels erkläre ich ihnen grob, was passiert ist. Sie sind Franzosen und arbeiten beide als Flugbegleiter. Gerade haben sie zwei freie Tage in Los Angeles. Als sie erfahren, wo ich überall schon gewesen bin und dass ich ganz alleine im Dunkeln herumirre, fällt die Frau fast in Ohnmacht.
„Wir sind mit dem Mietwagen hier“, sagt der Mann. „Der steht gleich da hinten.“ Er deutet hinter das Haus. „Da führt ein Fußweg dran vorbei.“
„Wo musst du denn hin?“, fragt die besorgte Stewardess.
Ich erkläre ihnen, dass mein Airbnb am größtmöglichen Arsch der Welt liegt. Doch als die beiden auf meine Karte schauen, sind sie begeistert. „Das ist in Richtung Flughafen, wo unser Hotel ist! Wenn du magst, fahren wir dich nach Hause. Das ist kein Ding!“
Ich flippe aus. Zehn Minuten später donnere ich mit zwei französischen Flugbegleitern lachend über den nächtlichen Freeway. Mein Handy hat noch 3 Prozent Akku.
Kurz darauf halten sie an einem Subway, der gleich um die Ecke von meinem Airbnb liegt. Ich verabschiede mit von den beiden und bestelle mir drinnen irgendeinen bekloppten „Sub des Tages“ und frage die Bedienung 70 Mal verwirrt „What did you say?“ während ich zwei Liter Cola wegziehe.
Warum ich den beiden getraut habe? Weil ich schon mit Freunden und allein um die halbe Welt gereist bin und mir so ein Oberblödsinn nicht das erste Mal passiert ist. Weil ich ein Bauchgefühl habe. Und weil das Leben ein Abenteuer ist.
Schon meine Anreise nach Los Angeles war ein Trip. Was ich da erlebt habe, erfahrt ihr in meinem ersten LA-Bericht Irre in Los Angeles (1) – Wie ich mit dem öffentlichen Nahverkehr zur Hölle fuhr.
Lonelyroadlover (Donnerstag, 30 Januar 2020 22:01)
Ach ihr Zwei - ich freu mich, dass ich mal wieder zur Erheiterung beigetragen habe. :D Ich finde es schön, zu hören, dass andere (Langzeit)reisende ähnliche Erfahrungen machen. Von totalen Fails hin zu Momenten, in denen das ganze Leben auf einmal vor einem zu liegen scheint. Reisen ist leben. Es lehrt einen so viel. Und gibt einem so viel. Lasst es und volles Rohr genießen!!
Sarah
Tani und Sarah (Montag, 27 Januar 2020 16:08)
Dein Blog war mal wieder so wunderschön zu lesen. Die Abfolge kennen wir auch. Erst ein Plan, dann läuft was schief, gerade das stachelt einen noch mehr an. Auch, dass man an einem schönen Ort mit einem Mal sein Leben beleuchtet und zu der Erkenntnis kommt, "ja man, du machst echt alles richtig" kennen wir gut. Gerade weil deine Geschichte so viel mehr zu bieten hat, als "ich bin die Straße hoch, hab ein Bild gemacht, bin wieder runter" macht es so lesenswert und bleibt dir wahrscheinlich dein Leben lang im Kopf. Und was wir auch immer machen, auf das Bauchgefühl hören. Vielen Dank für die schöne Geschichte!
Liebe Grüße Tani und Sarah
Lonelyroadlover (Sonntag, 26 Januar 2020 18:59)
Hi Kasia!
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Es ist ist manchmal so bekloppt im Leben... erst ergibt nichts Sinn und man fliegt auf die Klappe. Und auf einmal ist dann alles so richtig. Seltsam. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, wir bleiben in Kontakt.
Liebe Grüße,
Sarah
Kasia Oberdorf (Sonntag, 26 Januar 2020 00:32)
Was für eine Aktion! Könnte glatt von mir sein... ;-) Irgendwie fügt sich am Ende doch alles und man kommt da an, wo man ankommen soll...
Lg Kasia