Wie nass wird man, wenn man etwa drei Meter entfernt vom unteren Ende des dröhnenden, 60 Meter hohen Skógafoss Wasserfalls steht? Ich wische mir mit der Hand über das Gesicht und blinzele kurz. Dann sind meine Augen schon wieder voller Sprühnebel und ich sehe nichts mehr. Meine Jacke, meine Hose, meine Schuhe, meine Hände, mein Lächeln – alles trieft. Doch es ist unwichtig, ob ich etwas sehe oder später meine Unterhose am Kamin zum Trocknen aufhängen muss (was würde Santa Claus in so einem Fall eigentlich an Weihnachten machen?). Es ist das Tosen, die unbändige Kraft der Natur, die eisigen Tropfen, dieser monumentale Augenblick, der zählt. So nah an so einem riesigen Wasserfall zu stehen, ohne Geländer, ohne Seil – phänomenal! Ich schreie laut. Das Wasser ist lauter. Ich liebe Momente, in denen wir Menschen ganz klein sind und die Welt ganz groß.
Wir sind auf einem zweiwöchigen Roadtrip durch Island. Nach den ersten Tagen in Reykjavik und am Golden Circle, reisen wir nun durch den Süden der Insel. „Süden der Insel“ klingt nach Party unter Kokosnuss-Palmen, doch bedeutet in Island kristallblaue Gletscherhöhlen, Eis-Diamant-Strände und die Konfrontation mit einem wiederkehrenden Albtraum von mir: plötzlich auftauchende, lebensbedrohliche Monsterwellen.
„Ich habe eine Hütte mit Vulkanblick gebucht“, erkläre ich meinem Freund, als wir über eine Schotterpiste mit Schlaglöchern rumpeln und ich noch einmal das Airbnb-Inserat studiere. Er schaut aus dem Fenster. Es nieselt und ist neblig.
„Wo?“, fragt er sarkastisch.
Ich antworte nicht.
Island ist nichts für Schönwetterfrösche. Island ist Abenteuer. Zur Bestätigung scheppern wir durch ein besonders großes Schlagloch. Zum Glück haben wir einen Mietwagen mit Vollkasko ohne Selbstbeteiligung. Was Versicherungen angeht, bin ich very German.
Am nächsten Tag hat es aufgehört, zu nieseln. Stattdessen schüttet es aus Eimern. „Gut, dass wir uns heute Wasserfälle ansehen wollen. Da ist man eh nass“, teile ich meinem Freund vor der Abfahrt frohgemut mit.
Der Trip zum Seljalandsfoss, bei dem man einen Pfad wandern kann, der direkt hinter dem Wasserfall herführt, pisst mich trotzdem an. Ich liebe es, zu fotografieren. Aber wenn einem die Kamera fast wegfließt und man nur verschwommenen Scheiß abgelichtet bekommt, kann die Laune schon mal unter den Gefrierpunkt sacken. Dort, wo sich auch die Temperatur meiner Hände befindet. Blöderweise habe ich vorher auch noch im Internet Fotos vom Seljalandsfoss im Sommer bei Sonnenuntergang gesehen. Memo an mich selbst: Nicht zu viele (stark bearbeitete) Google-Fotos angucken, bevor man die Realität gesehen hat. Als ich bibbernd zurück am Auto bin, kauft mein Freund mir eine heiße Schokolade. Er weiß: hilft immer.
Nur weniger Kilometer weiter am Skógafoss habe ich mich mental von allen Google-Fotos verabschiedet. Stattdessen stampfe ich „jetzt erst recht“ direkt auf den riesigen, breiten Wasserfall zu, der sich einmal direkt an Islands Küste befunden hat, jetzt aber mehrere Kilometer weiter im Inland liegt. In Island verändert sich alles ständig. Vulkanausbrüche, Gletscher, tektonische Verschiebungen. Es ist ein Land, das arbeitet, schabt, explodiert und niemals ruht.
Statt über nicht vorhandene Sonnenuntergänge zu lamentieren, schließe ich meine Augen und versuche, all das zu fühlen. Während ich so nass werde, als würde ich in Starkregen stehen. Auf Reisen entscheidet oft die persönliche Einstellung über schlechte oder gute Laune. Die sich dann in schlechte oder gute Erinnerung verwandelt. Und ich hab keinen Bock auf schlechte Erinnerungen.
Dennoch gibt es einen Moment auf unserem Island-Roadtrip, in dem ich mich schlechten Erinnerungen stelle. Am schwarzen Vulkanstrand von Reynisfjara. Aus unerfindlichen Gründen habe ich seit Jahren einen wiederkehrenden Albtraum: Ich stehe am Strand, alles ist normal, bis plötzlich eine Riesenwelle kommt und ich im Sand feststecke und nicht wegkann.
Der Reynisfjara Beach ist die Personifikation dieses Albtraums, denn er hat sogenannte Sneaker Waves („Schleicher-Wellen“). Wellen, die urplötzlich, und bisher ohne wissenschaftliche Erklärung, doppelt so hoch sind wie alle anderen zuvor. Klingt nach schlechtem Killer-Hai-Film, ist aber ein wahres Phänomen, bei dem an diesem Ort echte Menschen gestorben sind.
Der schwarze Sand ist fein, beinahe wie Asche. Als Erstes sehe ich die massiven und total surrealen Basaltsäulen direkt am Strand. Basaltsäulen entstehen, wenn Lava abkühlt und der Fels dabei in eine sechseckige Form zerspringt. Das Ganze sieht aus wie ein postmodernes Kunstwerk aus dem Guggenheim Museum. Ist aber Natur. Ich renne wild herum und rufe: „Das ist doch nicht die Erde!“ Das mache ich manchmal, wenn ich nicht fassen kann, wie außergewöhnlich wunderbar unsere Welt ist.
Doch dann sehe ich auch die enormen Wellen, die weiß und wütend an den Strand branden. Wenn diese meterhohen Wellen, die normalen Wellen sind, was sind dann die gefährlichen Schleicher-Wellen? Mir wird flau und für den Rest der Strand-Zeit laufe ich mit einem unguten Gefühl im Magen herum. Alles sieht aus, wie in meinen Albträumen. Vielleicht sollte ich besser zum Auto gehen?
Nein, ich werde nicht zum Auto gehen. Ich werde die potenzielle Gefahr ernst nehmen, aber ich werde nicht vor meiner Angst weglaufen. Aus sicherer Entfernung betrachte ich das tosende Meer. Und in der Tat sind immer wieder Wellen dabei, die deutlich höher, kraftvoller und zerstörerischer sind als die anderen. Sie rauschen schneller und weiter auf den Strand als die anderen. Und sie würden jeden mit sich ziehen, der seinen Fuß an der falschen Stelle hätte – kein Zweifel.
Als wir zurückgehen, bin ich froh, mir den Reynisfjara Beach angesehen zu haben. Ich nehme sogar etwas Sand mit als Erinnerung. Eine gute Erinnerung.
Weil Island denkt, dass all das noch nicht spektakulär genug ist, rumpeln wir zwei Tage später auf einer Offroad-Tour durch das Geröll, das der Vatnajökull-Gletscher bei seinem Rückzug zurückgelassen hat. Der Vatnajökull ist der größte Gletscher Europas außerhalb des Polargebiets. Er ist aktuell 8.100 Quadratkilometer groß und durchschnittlich 380 Meter dick. Im Vergleich dazu ist der Eiffelturm 330 Meter hoch. Den könnte man also in den Gletscher einbetonieren, wenn man wollte. Keine Ahnung, warum man das wollte, aber man hätte immer noch 50 Meter Luft drüber. Oder Eis.
Wir sind auf dem Weg zur Crystal Blue Ice Cave. Einer Höhle im Gletscher. Und die Höhle
ist dann tatsächlich noch spektakulärer als ihr Name. Eine blau leuchtende Grotte mit einem türkisen Gletscherfluss öffnet sich unter der dreckig-weißen Schneekappe des Vatnajökull. Wie ein
Kirchenfenster, durch das die Sonne scheint. Nur, dass – natürlich – die Sonne nicht scheint. Doch der Gletscher strahlt in sich selbst, während ich mich zugleich fühle, als wäre ich unterhalb
eines riesigen, blauen Bernsteins, dessen Wände sich anfühlen wir eiskalte Honigwaben. „Das ist doch nicht die Erde!“ Ich sag’s nur.
Wieder draußen begutachten wir noch die Gletscherlagune Jökulsárlón, in der hellblaue Eisschollen treiben wir kleine Frachter. Wunderschön!
Nicht weit von beiden Sehenswürdigkeiten entfernt befindet sich der Diamond Beach, dessen Erscheinung eine direkte Folge des Gletschers ist. Denn die glitzernden „Edelsteine“ am schwarzen Strand sind Eis-Bruchstücke des Vatnajökull. Inzwischen hat zusätzlich ein fieser Eis-Sturm eingesetzt, der Schneeflocken wie Nadelstiche in mein Gesicht treibt. Doch die Diamanten sind zu schön, um einfach zu gehen. Ich setze auf eine später folgende heiße Schokolade.
Die Eis-Klunker liegen spitz und dem Wetter trotzend im nassen Sand.
Einige werden vom Wasser ergriffen, darin aufgelöst oder in neuen Formen wieder ausgespien. Sobald man sie anfasst, schmelzen sie. Ein vergängliches Wunder.
Als mein Freund schließlich noch geologische Schautafeln studieren will, deute ich mit dem abgefrorenen Stumpf meiner Hand Richtung Auto. Ich würde gern etwas sagen, aber ich habe das Gefühl, meine Lunge bekommt Gefrierbrand, wenn ich zu tief einatme. Hoffentlich frieren meine Augen nicht zu, bevor wir am Parkplatz sind.
Zum Glück sind sie offen genug, auch wenn sie wie verrückt tränen, um zu erkennen, dass es tatsächlich heiße Schokolade in einem Schuppen neben dem Parkplatz gibt. Halleluja. Mein Freund kauft mir einen Becher. Nicht, weil er mir immerzu einen ausgibt, sondern weil meine Hände zu tot sind, um mein Portemonnaie in der Tasche zu fühlen.
Island fühlt man eben nicht mit den Händen, sondern mit dem
Herzen.
Den ersten und den letzten Teil unseres Roadtrips durch Island findet ihr hier:
Und alles war aus Gold: Reykjavik und der Golden Circle – Roadtrip Island I
Trollfelsen, Polar-Camper und Wale im Meer: Islands Norden – Roadtrip Island III