675.000 Stunden – wie ein erfülltes Leben die Zeit verlangsamt.

30. Dezember 2024

Zeitwahrnehmung, die Zeit rast, bewusstes Leben
Ist denn die Zeit kaputt oder was?

„Schon wieder ein Jahr vorbei, die Zeit rast echt!“

Stopp.

Wenn ihr das gerade denkt, dann ist dieser Text für euch! Ist es nicht schade, dass uns die Zeit durch die Hände zu rinnen scheint und dass wir zu Festen wie Silvester oder Geburtstagen manchmal mit Melancholie, Resignation oder sogar Reue auf diese Wahrnehmung schauen?

Das ist halt so – je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit.

Richtig und doch so falsch.

 

Nein, man kann Zeit nicht anhalten oder zurückdrehen. Aber man kann für sich selbst die Geschwindigkeit der Zeit verändern. Klingt nach dunkler Magie und Eso-Geschwafel? Auf keinen Fall! Hier kommt ein kleiner Gedankenanstoß zum Ende des Jahres mit Tipps, wie man Zeit langsamer, bewusster und erfüllender erleben kann.

77 Sommer – mal bewusst darüber nachdenken

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Wie viele Sommer hattest du schon?

Ein ganzes Leben – das sind 60, 70, 80 oder 90 Jahre, wenn man Glück hat. Klingt auf jeden Fall nach ganz schön viel Zeit. Besonders wenn man jung und halbwegs gesund ist. Warum also darüber nachdenken, was genau man täglich mit seiner Zeit macht – es ist doch so viel davon da! Naja, zumindest bis sie nicht mehr da ist. Aus „Ich denk da doch nicht jeden Tag darüber nach!“ wird schnell „Ich denk da doch nicht jeden Monat darüber nach!“ und schließlich „Ich denk da doch nicht jedes Jahr darüber nach!“. Und dann – hat man einfach nie darüber nachgedacht und plötzlich ist die Zeit weg.

 

Lasst uns deshalb doch mal einen Moment aussteigen aus dem rasenden Kettenkarussell der Routine und Abstand nehmen von dem Sicherheitsgefühl, dass man ja irgendwann noch ganz viel Zeit hat für all das, was man jetzt gerade nicht tut. Nehmen wir mal die Zahl 77. Viele Menschen in Deutschland werden 77 Jahre alt oder älter.

Das sind 675.000 Stunden.

77 Sommer.

Acht Jahrzehnte.

Davon sind am Anfang rund zwei Jahrzehnte mit Kindheit und Jugend, Schule und Ausbildung gefüllt; am Ende eventuell ein oder zwei Jahrzehnte mit Einschränkungen und Erkrankungen.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich finde diese Zahlen weitaus aufrüttelnder als schwammige 77 Jahre, die sich so leicht im Alltag beiseiteschieben lassen. Wie viele Stunden sind bei euch schon um? Wie viele Sommer?

Zeitwahrnehmung – wann sie langsam oder schnell erscheint

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Da fliegt die Zeit dahin - was haben wir mit ihr gemacht?

Da wir nun an dem Punkt sind, an dem wir bewusst über Zeit nachdenken, lasst uns doch mal schauen, warum sie so schnell zu vergehen scheint und was man dagegen tun kann.

 

Es ist nicht nur unsere persönliche Illusion, dass Zeit mit dem Alter schneller vergeht. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass sich unsere Zeitwahrnehmung während des Lebens verändert. War als Kind nicht eine Stunde immer ewig lang? Und oh mein Gott – die Sommerferien! Die waren einfach nie zu Ende! Besonders im Rückblick war diese Zeit lang und hoffentlich mit einigen schönen Erlebnissen wie Freizeit, Eisessen, Freibad oder Urlaub gefüllt.

 

Ein Grund für diese Wahrnehmung ist, dass wir mit einem Haufen unbeschriebener Blätter im Buch des Lebens auf die Welt kommen. Als Kinder oder Jugendliche erleben wir fast jeden Tag etwas Neues. Wir lernen Laufen, Sprechen und Schreiben, wir treffen dauernd neue Personen, sehen Orte, an denen wir noch nie waren, und Gegenstände, die uns fremd und aufregend erscheinen. Als junger Mensch erlebt man eine unheimliche Dichte an wichtigen und neuartigen Ereignissen, die alle vom Gehirn verarbeitet werden müssen. Und somit nehmen wir diesen Zeitraum als sehr lang war.

Als Erwachsene dagegen ist vieles Routine geworden. Der Job, das Familienleben, Einkaufen, Haushalt, Rechnungen… Natürlich gibt es auch da einschneidende Erlebnisse wie Urlaube, eine Hochzeit, eine neue Wohnung,… aber nicht mehr in der Häufigkeit, wie es in unserer Kindheit der Fall war. Die Zeit wird leerer, unser Gehirn muss nicht mehr so viel Neues verarbeiten – und die Zeit beginnt, zu rennen.

Wie man Zeit verlangsamt und befüllt

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Neue Horizonte anschauen

Chronobiologe Till Roenneberg vom Münchener Institut für Medizinische Psychologie sagte dazu mal, dass unser Gehirn nicht wie eine Uhr die Zeit messen kann. Stattdessen verarbeitet es neue und wichtige Ereignisse. Die Dichte dieser Erlebnisse nutzt es dann, um einen Zeitraum abzuschätzen. Wenn wir viel Neues erleben, speichert das Gehirn, dass wir für so viel Neues viel Zeit benötigt haben müssen. Wenn wir kaum Neues erleben, speichert das Gehirn, dass wir dafür wohl wenig Zeit gebraucht haben.

 

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich hatte früher, als ich noch nicht selbstständig, sondern in Vollzeit angestellt war, besonders nach Urlauben oft so Zeit-Anomalie-Gefühle. Erst schien der Urlaub intensiv und lang, dann war er plötzlich schon vorbei und dann – am Ende des Jahres – habe ich mich (zugespitzt) nur noch an zwei Wochen Reisen und 50 Wochen irgendwo auf der Arbeit erinnert. Ja, mich hat meine Arbeit damals auch nicht gerade erfüllt – und da sind wir bei einer ganz bedeutsamen Erkenntnis:

 

Wir können die Zeit verlangsamen, indem wir sie mit Dingen füllen, die uns etwas bedeuten, die uns Sinn geben, die uns neugierig machen, uns etwas Neues lehren oder uns ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit bringen. Etwas, das dem Gehirn signalisiert: „Hey, ich hab da gerade ein Erlebnis, ich mache da gerade etwas anderes als Routine – speichere das mal als langsame Zeit!“ und nicht: „Hey, ich hab heute wieder acht Stunden darauf gewartet, dass der Arbeitstag vorbeigeht, speichere das mal als ’ne halbe Sekunde.“

Tipps gegen das Versumpfen

Lebenslanges lernen, Lebenszeit, Leben füllen, erfüllende Zeit
Die Flügel ausbreiten und etwas Neues ausprobieren

Na klar ist es utopisch und stressig, jeden Tag ein neues Erlebnis oder Glück erzwingen zu wollen. Es wird immer unangenehme Dinge und notwendige Routinen im Leben geben von Arbeit und Stromrechnungen über Arztbesuche und anstrengende Mitmenschen bis hin zu kleinen und großen Sorgen im Kopf.

Aber es geht auch nicht darum, jetzt 52 Wochen auf Weltreise zu gehen, sich sieben neue Sprachen beizubringen, fünfzehn neue Hobbys anzufangen und die pure Erfüllung in jeder Sekunde seines Jobs, seiner Beziehung oder eines Ausflugs zu suchen.

 

Es geht darum, dass wir nicht dauerhaft versumpfen. Dass wir ab und an bewusst die Routine durchbrechen, indem wir etwas Neues ausprobieren, uns etwas gönnen, etwas lernen oder neuen Menschen und Ereignissen eine Chance geben, uns überhaupt zu begegnen. Vielleicht mal abends überraschend einen Spaziergang in den Wald oder Park machen, ein Youtube-Tutorial schauen und sich etwas beibringen, zu einer Veranstaltung gehen, jeden Sonntag ein unbekanntes Rezept testen, dorthin fahren, wo man noch nie war, einen alten Kontakt wieder aufnehmen. Oder im größeren Stil: ein neues Hobby anfangen, eine zweite oder dritte Ausbildung machen, das Haus verkaufen, umziehen, eine große (Pilger)Wanderung unternehmen,…

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Unterwegs und ständig neue Eindrücke - ein Jahr fühlt sich an wie zehn

Seit sieben Jahren bin ich inzwischen als freie Texterin selbstständig, arbeite ortsunabhängig, reise viel, wandere viel und habe eine turbulente und ungewöhnliche Fernbeziehung zu meinem Mann in die USA. Ja, das ist manchmal mehr, als auf eine Kuhhaut geht. Aber die letzten sieben Jahre haben sich für mich so angefühlt wie ein ganzes Leben. Wie mehr als die ganzen 25 Jahre davor. Manchmal muss ich mich bremsen und einfach mal eine Tasse Tee trinken, damit mein Gehirn überhaupt mal die Chance hat, irgendwas zu verarbeiten. Manchmal ist es zu viel – aber meistens ist es genau richtig.

 

Ich trotte nicht mehr mit leerem Kopf blind durch den Alltag und versuche, das Leben irgendwie auszuhalten – ich cruise bewusst zu neuen Ufern, heraus aus Komfortzonen und zu Erlebnissen, die mich erfüllen und als besondere Erinnerungen zurückbleiben. Neunzig Prozent der Zeit bin ich dabei zufrieden, ausgeglichen und glücklich (die anderen zehn Prozent ärgere ich mich wahrscheinlich über Einspruchsschreiben an Behörden oder hänge in der Telekom-Störungshotline ;p). Seit sieben Jahren sage ich an Silvester nicht mehr: „Boah, ist das Jahr aber schnell vorbeigegangen!“

Ich sage: „Wow, gefühlt war das letzte Jahr wieder zehn Jahre lang – wie schön!“

675.000 Stunden Lebenszeit – an viele werde ich mich bewusst und mit einem Lächeln erinnern.

 

Weitere Inspiration zum Thema Lebenszeit findest du hier:

Das Eichhörnchen und die Wiese der Zeit, Sarah Bauer, Autorin illustriertes Buch für Erwachsene, Eichhörnchenbuch

Ich habe ein Buch geschrieben und illustriert, das sich mit Eichhörnchen als Protagonisten auf liebevolle Weise und ohne mahnenden Zeigefinger mit dem Wert von Zeit befasst.

 

Schaut doch mal rein: www.squirrelsarah.com/shop

 

Inhalt: "Wenn ihr keine Zeit habt, warum sammelt ihr nicht lieber Zeit, statt Nüsse?"
Auf dem Weg durch den Wald entdeckt das Wanderhörnchen nicht nur blaue Bäume, ein Seerosenmeer und einen Fuchs, der Marshmallows grillt, sondern auch die Geheimnisse der Zeit. Was machen wir mit ihr, was haben wir von ihr und was bleibt am Ende? Eine Geschichte, die keine lauten Antworten gibt, sondern auf leisen Pfötchen zum Nachdenken anregt.

Kommentare: 2
  • #2

    SquirrelSarah (Samstag, 04 Januar 2025 20:40)

    Liebe Karen,
    vielen Dank für deinen Kommentar und deine Geschichte. Zwar ist "ohne Moos nix los" (auch keine Reise oder Hobbys), aber tatsächlich ist das Moos auch nicht viel wert, wenn man keine Zeit oder keine Gesundheit mehr hat. Umso schöner, dass es für euer Sabbatical auf den Sattel ging und ihr dabei die Zeit auch verlangsamt empfunden habt. Und noch schöner, dass ihr weitermachen wollt. Das Leben ist so unberechenbar und niemand weiß, wie viele Lebensstunden noch übrig sind - ich wünsche euch alles Gute!
    Sarah

  • #1

    Karen (Samstag, 04 Januar 2025 19:42)

    Hallo Sarah,
    danke für absolut wertvolle Worte! Ich bin fast 551880 Stunden alt und habe zum Glück gerade noch rechtzeitig den Wert der Zeit erkannt (wertvoller als Geld). Auch wenn ich nur vier Wochen unterwegs war, wandern oder mit Rad und Zelt - sie fühlten sich wie vier Monate an. Und Monate unterwegs kamen mir wie Jahre vor. Und ein ganzes Jahr oder elf Monate auf Tour waren fast eine Ewigkeit. Was heißt das? Die Weihnachtspause vom Reisen wird so schnell es geht beendet. Nur noch am 10. Januar einen Vortrag unserer letzten Radreise und ein paar wichtige Termine. Danach wird sich die Zeit wieder dehnen. Eigentlich gar nicht so schwer, die gefühlte Verlängerung der Lebenszeit....
    Viele Grüße (in Moment von der Ostsee), Karen

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