Die Sonne scheint, als wir am Wanderparkplatz des Lone Star Geysirs im Yellowstone Nationalpark unsere „Schränke“ aus dem Auto laden. Die „Schränke“ sind unsere zwölf Kilo schweren Rucksäcke, in denen unser Survival-Gedöns für die nächsten drei Tage steckt.
Wir wandern und campen in der Wildnis – Backcountry. Kein Klappstuhl mit Getränkehalter, keine Waschräume, kein Cola-Automat, kein Grill. Wir gehen dorthin, wo man nur zu Fuß hinkommt, wo man das Trinkwasser aus dem Fluss filtern muss und für den Toilettengang mit einer Schaufel ein Loch in den Boden gräbt.
Ich wedel mit der Backcountry-Erlaubnis herum, die wir gerade an der Ranger-Station abgeholt haben. Mit dem Wisch fühle ich mich jedes Mal ungeheuer abenteuerlich und enthusiastisch, bis mir nach den ersten Kilometern die Schultern vom Gewicht des Rucksacks abfallen und uns wahlweise der Schweiß oder der Regen auf der Stirn steht. But no pain, no Wildnis.
Heute ist es allerdings angenehm und heiter bis wolkig – läuft. Gut, später soll ein vereinzeltes Gewitter durchziehen, aber selbst der Ranger winkt ab: „Das ist bloß ein kurzes Yellowstone-Gewitter. Das ist in ein paar Minuten auch wieder vorbei.“
Wer diesen Blog kennt, ahnt, dass hier etwas im Busch ist. Wir zum Beispiel, als wir vier Stunden später in siffigen Regenjacken unter einer Kiefer hocken und auf einen nicht ausbrechenden Geysir starren, während eine Gewitterwalze mit waagerechtem Starkregen und dreiarmigem Blitzschlag über uns hinwegrollt. Und dann ist da noch die Sache mit der Flut, den Bären, dem Schneefeld und einem phänomenalen Abend in goldenem Licht. Packt den Blitzableiter ein – es geht los!
„Wie idyllisch und praktisch, dass der Fluss gleich neben dem Zelt verläuft“, freue ich mich, als wir unser Camp nach einem sechs Kilometer langen Marsch ins Hinterland von Yellowstone aufgebaut haben. „Da müssen wir gar nicht weit laufen, um Wasser zu holen!“
Ich mache ein paar pittoreske Fotos.
Dann verdunkelt sich der Himmel. „Ah, das ist bestimmt das kurze Gewitter“, sagt mein Freund fachmännisch. Wir machen es uns im Zelt gemütlich, während es draußen ein wenig grummelt und ein bisschen regnet.
Danach wandern wir zum Sonnenuntergang am Lone Star Geysir. Er ist einer der weniger bekannten Geysire im Yellowstone Nationalpark, doch er soll spektakulär sein und bricht etwa alle drei bis vier Stunden aus. Weil man ihn nur durch eine Wanderung erreichen kann, sind kaum Leute da. Heute Abend sogar gar keiner.
Könnte auch daran liegen, dass es nach einem kurzen Moment mit blauem Himmel auf einmal wieder finster wird.
„Wooow, guck mal diese Wolken!“, rufe ich. „Die sehen aus, als würde eine Welle über uns hinwegrollen.“
Eine halbe Minute später donnern achtundneunzigtausend Liter auf den Quadratmeter. Der Himmel ist schwarz, Wind peitscht, Blitze zucken, es kracht. Wir sind drei Kilometer von unserem Zelt entfernt und verkriechen uns, in Regenklamotten gehüllt, immer tiefer unter eine stechende Kiefer.
Der Geysir dampft schwach, hat aber bei der Apokalypse auch keinen Bock mehr, auszubrechen. Tolle Wurst. Dann blitzt und kracht es fast gleichzeitig.
„Das war jetzt aber auch nur noch eine halbe Meile weit weg“, sagt mein Freund ruhig. Wahrscheinlich würde er selbst am Tag des Jüngsten Gerichts erst eine entspannte, wissenschaftliche Analyse abschließen, bevor er losrennen würde. Allerdings bringt es hier auch nix, wegzurennen. Es gibt nur die Wahl zwischen Bäumen und freiem Feld.
Nach einer Stunde lässt es etwas nach. Wir schleichen bedröppelt zurück zu unserem Camp. Dem Camp, das so idyllisch nah am Fluss lag. Am Fluss, der so gemächlich dahinfloss und jetzt auf einmal viel breiter ist und dunkel gurgelt und schäumt.
Am Zelt, das jetzt richtig nah und gar nicht mehr idyllisch am Fluss liegt, ist es fast dunkel. Immerhin steht der Scheiß noch und ist innen trocken. Leider müssen wir trotzdem draußen im strömenden Regen hundert Meter entfernt vom Zelt im Stehen essen, weil es in Yellowstone Bären gibt und man deshalb auf gar keinen Fall im oder auch nur in der Nähe seines Zelts essen darf. Essensgerüche und Krümel ziehen Bären an. Bären essen Menschen. Also stehen wir bei 13 Grad unter einem triefenden Baum im Halbdunkel und essen schweigend Kartoffel-Lauch-Suppe aus einer Thermosflasche. Die Frage „Was machen wir eigentlich hier?“, steht wie ein Elefant neben uns im Wald. Aber ich weiß, dass ich lieber mit Gewitter beim Zelten in der Wildnis absaufe, als langsam in einem monotonen Alltag zu ertrinken.
Am nächsten Morgen wachen wir mit Hagel auf. Es knattert wie irre auf der Zeltplane. Dann tropft es eiskalt in mein Gesicht. Die Zeltplane hat aufgegeben, der Daunenschlafsack färbt sich an den Rändern dunkel vor Nässe, der Fluss ist noch ein klitzekleines bisschen nähergekommen und draußen stehen die Wiesen knöcheltief unter Wasser.
Boah nä. Wir packen zusammen. Alles ist klamm und kalt – inklusive uns selbst – und über den Wiesen steht Nebel. Miesepeterig wandern wir zurück zum Auto. Nicht mal den blöden Geysir haben wir gesehen!
Als wir fast am Wanderparkplatz sind, bricht auf einmal die blöde Sonne hervor. Klassiker.
Wir grübeln und fahren zu einem Rastplatz, wo wir alles in der blöden Sonne zum Trocknen auslegen. Dann holen wir uns an der Ranger-Station die Erlaubnis, unser Camp an einem anderen, höhergelegenen Ort nochmal neu aufzuschlagen. Außerdem sagt der Ranger, dass es die kommenden zwei Tage ausschließlich sonnig werden soll. Ich mache ein sarkastisches Geräusch.
Drei Stunden später wandern wir zurück in die Wildnis. Zwölf Kilo auf dem Rücken, sechs Kilometer zu Fuß.
Der neue Platz ist auf einer kleinen Anhöhe mit dampfenden Hot Springs, ein gutes Stück weg vom Fluss. Wir bauen das inzwischen getrocknete Camp wieder auf.
In dieser Nacht liegen wir gemütlich im warmen Schlafsack, es ist sternenklar und die Mondsichel steht still und weiß am dunkelblauen Himmel.
„Lass mal jetzt hier noch was unternehmen!“, sage ich am nächsten Tag enthusiastisch. Passend dazu scheint tatsächlich wie angekündigt die blöde Sonne. Ich deute in der Karten-App auf ein Geysir-Feld.
Das Shoshone Geyser Basin liegt – one way – zehn Kilometer von unserem Zeltplatz und sechzehn Kilometer vom nächsten Parkplatz entfernt. Ein Ort, der im offiziellen Yellowstone-Touristen-Flyer gar nicht erst auftaucht, weil er so schwer zugänglich ist. Nur wenige Leute werden 32 Kilometer an einem Tag laufen, um sich heiße Quellen anzusehen, von denen es in Yellowstone viele in unmittelbarer Nähe zu Straßen und Aussichtsplattformen gibt. Noch weniger Leute werden Zeit genug haben, um, wie wir, über Nacht zu zelten. Für uns ist es genau die richtige Herausforderung! Wir packen unsere leichten Tagesrucksäcke und laufen los.
Ein kleiner Bach mäandert durch eine saftige Wiese, Wildblumen liegen wie Streusel im Gras. Im Hintergrund Berge, über die Federwolken streifen. Dann ein kleiner Haufen Schnee mitten auf dem Wanderweg. „Wie lustig, wo kommt das denn noch her?“, sage ich und mache schnell ein Beweisfoto.
Ein paar hundert Meter weiter geht es bergauf. Mehr Schnee. Noch ein Stück bergauf. Sehr viel mehr Schnee.
Kurz darauf stecken wir bis zum Knie in tauendem Schnee, der so weich ist, dass wir immer und immer wieder einbrechen.
„Ich weiß ja nicht, Sarah, aber sollten wir nicht vielleicht besser zurückgehen?“, sagt mein Freund, bevor er über ein Stück Eis schlittert. Ich schwitze. Es sind bestimmt 25 Grad auf meinem Kopf, während in meinen Schuhen Eiswürfel stecken.
„Ich will aber jetzt dieses Geysir-Feld-Gedöns sehen!“, protestiere ich. Ich hab gar keine Lust, schon wieder vor dem Wetter einzuknicken. Vier Kilometer stampfen wir langsam und unter großen Kraftanstrengungen durch das Schneefeld. Weil es hinter der nächsten Ecke bestimmt besser wird. Hust.
Es wird besser. Der Weg führt schließlich in ein Tal und der Schnee verschwindet.
Dann stehen wir auf einmal vor einem Fluss. Die dünnen Baumstämme, die jemand quer darüber geworfen hat, sehen mehr als bedenklich aus.
„Ach, scheiß drauf“, sage ich. „Meine Füße sind eh nass und kalt.“ Ich stiefel mit Schuhen in den Fluss, der mir an der höchsten Stelle bis halb über den Oberschenkel reicht. Wir lachen. Mein Freund folgt mir.
Nach weiteren fünf Kilometern erreichen wir endlich das Shoshone Geyser Basin. Und wow – was für ein Ort! Orangene Teiche blubbern und türkise Quellen dampfen direkt am Ufer des komplett surreal-samtblauen Flusses. Weiße Sinterhügel sprühen heißes Wasser, Mini-Krater erheben sich aus der Erde und aus einem gelblichen Loch röhrt es dumpf und mysteriös. Es gibt keine Geländer, keine Schilder, keine Zäune, keine Aussichtsplattformen. Wir sind mittendrin in der wilden Schönheit von Yellowstone. Auf der gesamten Wanderung sehen wir bloß einen einzigen, weiteren Menschen – aber eine ganze Wunderwelt aus Natur.
Als wir abends nach 20 Kilometern müde und glücklich wieder an unserem Zeltplatz ankommen, beschließen wir, nochmal zum Lone Star Geysir zu laufen. Auch schon egal.
Dann stehen wir mit fünf anderen Neugierigen herum und warten. Schließlich zischt es und der Geysir fängt an, heißes Wasser zu spucken. Allerdings nur kurz. Dann ist Stille. Unsere Mitbeobachter zucken mit den Schultern und verabschieden sich nach und nach.
Mein Freund setzt sich neben die Kiefer, unter der wir am ersten Tag abgesoffen sind.
„Komm, wir machen noch einen heißen Kakao“, sagt er und packt den Gaskocher aus.
Auf einmal zischt es nochmal. Dann brodelt es. Über den Hügel ziehen orangene Wolken im Sonnenuntergang. Und dann schießt eine riesige, über zehn Meter hohe Fontäne aus dem Geysir. Weiß und fauchend berührt sie den glühenden Abendhimmel. Ich raste aus! Ganz allein beobachten wir einen gigantischen Ausbruch des Lone Star Geysers, der über eine halbe Stunde lang anhält. Wieder und wieder schießt das Wasser in immer größere Höhen, während sich die Wolken golden, rot und schließlich pink färben. Ich will weinen, weil es so schön ist.
An diesem Tag, in diesem Moment macht alles Sinn. Es ist ein Moment, den niemand außer uns beiden erlebt. Er ist magisch und wird für immer wie ein Polaroid in meinem Gedächtnis hängen. Was machen wir eigentlich hier?
Leben.
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