Eine Frau mit “I love California”-Aufdruck auf dem Shirt hebt ihren kleinen Hund hoch. Dann gibt sie ihm ein großes Stück Fleisch von ihrem Teller. Ihre Freundinnen lachen. Alle haben Löcher in den Jeans. Ungefähr einen Meter daneben streckt ein Obdachloser seinen Kopf durch die dreckigen Planen seines Zeltlagers. Sein Blick ist müde und leer. Er schüttelt eine leere Plastikflasche und humpelt hinüber zu den öffentlichen Toiletten. Auch er hat Löcher in den Jeans. Aus einem Lautsprecher plärrt „Happy“ von Pharrell Williams.
Ich bin irgendwo auf der Promenade zwischen Venice Beach und Santa Monica. Straßenkünstler bieten Traumfänger und bemalte Fliesen an. Ab und zu wehen die Klänge einer Gitarre herüber. Es ist Crosby Morgan – eine von vielen Kreativen, die versuchen, hier zu leben und zu überleben. „Ich spiele seit elf Jahren Gitarre“, erzählt sie. „Ich lebe davon. Jeden Tag spiele ich hier. Für Trinkgeld und so.“ Ihre wunderbare Stimme durchdringt die grauen Wolken, die über dem Strand liegen. Es ist June Gloom, eine Wetterlage, die täglich eine Menge Wolken bringt. Es ist warm aber bedeckt. Die Palmen wirken farblos. Mitten im Sand gegenüber von Ständen mit bunten Souvenirs liegen überall Pappen, Zeltplanen, abgewetzte Stühle. Menschen ohne Zuhause. Sie gehören einfach so dazu. Niemand scheint sich darüber zu wundern oder aufzuregen.
Am Santa Monica Pier besuche ich den Endpunkt der Route 66. Ich berühre das Schild. War ich wirklich noch vor einem Monat in Chicago? Ich spüre, wie mir das Zeitgefühl durch die Hände rinnt wie der Sand unten am Wasser. Ungefähr 5500 Kilometer bin ich gefahren. 4000 auf der Route 66 und etwa 1500 in den Nationalparks. Ich fühle mich alt und gewachsen und zugleich winzig klein und aufgewühlt. Zwei Monate im Büro waren wie ein Wimpernschlag, zwei Monate hier draußen sind wie Jahre. Ich blicke das Schild an. End of the Trail. Vielleicht ist es das: Je mehr man sein Leben mit Sinn füllt, desto länger wird es.
Ein Sinn auf meiner Reise sind nicht nur die Sehenswürdigkeiten und Landschaften, sondern die Menschen. Alte Menschen, junge Menschen, traurige Menschen, einsame Menschen, verrückte Menschen und glückliche Menschen. In Los Angeles treffe ich gleich mehrere, die mich zutiefst beeindrucken und ihre Spuren in mir hinterlassen. Da ist Mario, mit dem ich über Instagram verbunden werde. Er fährt zu mir raus und nimmt mich einen ganzen Tag mit seinem Auto mit durch Downtown bis hin zu einem Light-Show Event namens „Glow Flow“ abends am Santa Monica Beach. Einfach so. Am Morgen kennen wir uns noch gar nicht und dann lachen und fotografieren wir den ganzen Tag.
Dann ist da Bobby. Seine Freundin Jules hat mit einer Freundin von mir in Deutschland in einer Theater-Show gearbeitet. Dann ist sie gestorben. Von einem Tag auf den anderen. Mit 29. Erst vor wenigen Wochen. Meine Freundin hat mich deshalb gebeten, Bobby für sie zu umarmen, wenn ich nach Los Angeles komme. Einige Tage später sitzen wir am Strand und essen ein Pfund Pommes. Dann trinken wir Wein in einer Bar an der Promenade und reden. Über Kunst. Das Leben. Wenn ich darüber nachdenke, was in ihm vorgehen muss, treten mir die Tränen in die Augen. Später wandere ich am Strand von Venice Beach nach Santa Monica in den Sonnenuntergang. Ich bin jetzt 26. Was würde ich tun, wenn ich nur noch drei Jahre zu leben hätte? Es trifft mich wie ein warmer Stromschlag. Das hier. Ganz genau das hier, denke ich. Noch nie hat sich irgendwas so richtig angefühlt, wie in diesem Moment.
Am nächsten Tag treffe ich mich mit Franklin. Zum dritten Mal. Ich bewundere seine Landschaftsfotografien auf Instagram schon lange. Er lebt im Orange County. Als er mitbekam, dass ich diese verrückte Reise wirklich machen würde, war klar, dass wir uns sehen mussten. Nach einer Mondschein-Session im Joshua Tree National Park und einer verrückten Fahrt über den Hollywood Boulevard bei Nacht mit Jazzmusik im Radio, sehen wir uns nun zum letzten Mal. Er nimmt mich mit nach Malibu, wo es einen Strand mit imposanten Felsformationen gibt. Wir fotografieren den ganzen Vormittag lang, kriechen in Höhlen und lachen über Tomaten. Als er mich später wieder zurück zu meiner Unterkunft bringt, fühlt sich meine Seele schwer an. Morgen fahre ich weiter. Den Highway 1 hinauf nach San Francisco. Jeden Tag verschwindet mehr Geld von meinem Konto, jeden Tag werde ich so gesehen etwas ärmer. Aber auf jeden ausgegebenen Euro kommt ein eine ganze Schatzkiste Reichtum an Erfahrungen, Emotionen, Freunden und Momenten, die mir niemand mehr nehmen kann, selbst wenn ich einmal nichts mehr habe sollte und aus einer Plastikplane herausschaue.
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