„Na toll“, rufe ich Richtung Meer. Es ist 0:30 Uhr und wir stehen auf dem Gipfel des Ryten Mountain auf den Lofoten in Norwegen, etwa hundert Kilometer nördlich vom Polarkreis. Der perfekte Campspot, um von dort aus nachts die Mitternachtssonne zu sehen.
Oben Bergketten mit scharfen Spitzen und schroffen Steilwänden, unten eine Bucht mit weißem Sand und türkisem Wasser, gegenüber der weite Horizont. Was wir davon sehen: nichts. Alles ist weiß. Der Wetterbericht hat gelogen. Statt „teils bewölkt“, ist der Nebel des Grauens am Start. Mein Freund hat markante Steine ausgelegt, damit wir gleich den Weg vom Gipfel zum tiefergelegenen Zelt zurückfinden. Die Sicht ist unter zehn Metern.
Da latscht man mit seinem Backpack, Stativ, Kamera und Zelt auf diesen scheiß Berg, um diese bekackte Sonne zu sehen, steht mitten in der Nacht auf, und dann das! Für eine halbe Minute erscheint ein mattgelber Schleier, wo vermutlich der Horizont ist. Das war’s. Sonst nur feuchter, kalter Nebel. Wir gehen zurück und mummeln uns in den Schlafsack.
„Weißt du noch, wo wir sechzehn Tage in
Island waren und kein einziges Mal die Nordlichter gesehen haben?“, fragt mein Freund. „Wir haben’s nicht so mit diesen Himmelsdingern.“
Ich ziehe den Reißverschluss vom Zelt zu. Der Himmel kann mich mal. Klappe zu.
Wie karibisch-arktisch schön es auf dem Ryten Mountain am nächsten Morgen war, wo wir die olle Mitternachtssonne schließlich doch noch gesehen haben und was das für ein Gefühl war, erfahrt ihr hier.
Wandern auf den Lofoten ist speziell. Die Berge der Inselkette im Norden von Norwegen sind sehr steil und schießen förmlich direkt aus dem Meer auf, um auf den Gipfeln in scharfen Zähnen zu enden, die gerne mal sämtliche Wolken des Atlantiks einfangen und festhalten. Für gleich mehrere wunderschöne Wanderwege benötigt man Kletter-Equipment – und auch die Pfade, die man ohne Seile und Karabiner bestreiten kann, sind kein Abendspaziergang.
Der Ryten Mountain gehört noch zu einem der harmloseren Berge. Woran ich kurze Zweifel hege, als ich auf senkrechtem Schotter ausrutsche und mir das Knie an einem Felsen anhaue. Da sind wir gerade mal seit 500 Metern auf dem Trail. Doch der krasse Anstieg lohnt sich. Schon nach wenigen Minuten haben wir einen fantastischen Blick über eine Bucht mit bunten Wildblumen auf der einen Seite und einer Seenplatte mit Inseln auf der anderen.
Leider wabert in den Bergspitzen Nebel. Ach was, der geht schon noch weg. Es soll ja „teils bewölkt mit Sonne“ werden, wie die sonst immer sehr zuverlässige norwegische Wetter-App YR versprochen hat.
Auf einem Viertel der Strecke kommt uns ein Paar aus Belgien entgegen. „Boah, oben auf dem Gipfel sieht man gar nix“, sagen sie. „Alles weiß.“
Ich nicke. „Das klart noch auf!“, erwidere ich enthusiastisch.
Über Holzplanken – darunter ist sumpfiges Marschland – laufen wir an Felsen längs, die wie mit grünem Samt bezogen zu sein scheinen. Dann erspähen wir den Kvalvika Beach von oben. Eine unglaublich szenische Bucht, in der türkis-blau-grünes Wasser wie ein Aquarell auf einen weißen Strand aufläuft. Die Bergspitzen liegen immer noch in Wolken – aber das wird halt noch. Das ist der perfekte Spot für die Mitternachtssonne!
Als wir gerade den Gipfel erreichen, beschließt das Wetter tatsächlich, noch was zu werden. Nämlich richtig scheiße. Innerhalb von Minuten zieht eine zähe Nebelwand rein und verschluckt sämtliche Ausblicke.
Komplett in feuchtes und undurchdringliches Weiß gehüllt, suchen wir uns einen Ort, um unser Zelt aufzuschlagen. Tolle Wurst. Drei Stunden sitzen wir in der Brühe in unserem Camp. Dösen, lesen, quatschen. Um 22 Uhr scheint es einmal kurz aufzuklaren. Ich werde ekstatisch. Natürlich für Nüsse. Als es 0:30 Uhr ist (die echte Mitternachtssonne ist nicht um Mitternacht, sondern um 1 Uhr wegen der von Menschen eingeführten Sommerzeit), würde man nicht mal einen pink glühenden Elefanten in zwei Metern Entfernung sehen. Yippie. Mitternachtsnebel. Ganz vergessen, den auf die Bucket List zu schreiben.
So sah es übrigens am nächsten Morgen auf dem Rückweg nach unten aus. Urkomisch. Aber halt auch verdammt schön. Wir haben uns gefreut, wenigstens das noch sehen zu dürfen:
Was ist denn jetzt mit dieser arktischen Sonne? Scheint die absichtlich nur tagsüber? Ist die
Mitternachtssonne vielleicht eine Verschwörung?1111!!!1?
Nein. Als wir abends durch einen kleinen Fischerhafen neben unserer Unterkunft streifen, deutet mein Freund auf eine Lücke zwischen den Bergen am Horizont. „Vielleicht können wir die Sonne ja heute Nacht genau dort sehen!“, sagt er optimistisch.
Ich bin fertig mit Optimismus.
Trotzdem stehen wir um Mitternacht auf und gehen gucken. Und heiliger Scheiß – das ist die Sonne! Genau zwischen den Bergen. Golden leuchtet sie und wirft warmes orangefarbenes Licht in die kleinen Wellen im Hafenbecken direkt vor uns. Ich schaue auf die Uhr und zur Sonne und wieder auf die Uhr. Es ist 0:25 Uhr. Am liebsten würde ich mein Handy neu starten, um zu sehen, ob die Uhr nicht kaputt ist. So unglaublich surreal ist es, die Sonne um diese Zeit am Himmel zu sehen.
Auf dem Foto sieht es aus wie jeder andere Sonnenuntergang. Aber hier, wo wir stehen, da fühlt man es. Da fühlt man, dass man etwas ganz Besonderem beiwohnt. Etwas, das nur für wenige Wochen in einem ganz kleinen Teil der Erde zu sehen ist. Die Sonne scheint mitten in der Nacht. Das ist wie Weihnachten an Ostern oder ein Eisberg in der Wüste. Irre. Und das einfach mal nur hundert Meter von unserem Haus entfernt. Ganz ohne Wanderung, Zelt und Berge.
Manchmal sind Dinge einfach da. Passieren einfach. Wenn man am wenigstens damit rechnet und gar nicht viel Gedöne darum macht.
Mehr Abenteuer von uns aus dem wilden Norden findet ihr hier:
SquirrelSarah (Sonntag, 13 August 2023 13:41)
Hey Kasia,
danke für deine Gedanken dazu! :) Genau auf dem Weg bin ich auch immer noch. Manchmal fährt oder wandert man ja sehr lange, um etwas zu sehen, was man sich seit der Kindheit erträumt hat und dann ist es natürlich super schade, wenn es dann nicht klappt. Aber ich denke mir inzwischen auch immer öfter, dass es dann vielleicht auf andere Weise an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit passieren soll oder dass es einen motiviert, es nochmal zu versuchen und dabei ganz andere Dinge zu entdecken.
Ganz liebe Grüße
Sarah
Kasia Oberdorf (Freitag, 11 August 2023 19:14)
Ja, ich habe meinen Frieden damit gemacht, besonderen Momenten nachjagen zu wollen. Sie entstehen einfach. Und wenn ich etwas gesehen oder etwas nicht gesehen habe, dann sollte es genauso sein. War ein langer Weg bis zu dieser Erkenntnis und besonders, wenn man sich etwas sehr wünscht, ist es halt echt schwer. Ich freue mich für euch, dass ihr doch noch euer Erlebnis hattet. Vermutlich hätte ich auch die Uhrzeit gecheckt... ;-)