Angst vor der Abreise:

Schlittschuhlaufen auf Blanken Nerven.

17. Juni 2018

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Das große Kribbeln am Flughafen

Es ist dunkel. Ich öffne die Augen. Dunkel. Schließe sie. Es ist drei Uhr nachts und ich liege wach. Noch zwei Tage bis zu meiner viermonatigen Soloreise durch die USA. Wie ein fehlgeleiteter Feuerwerkskörper rasen meine Gedanken bunt und brennend durch den Raum. Fliegen gegen die Wand der grenzenlosen Euphorie, springen zurück und taumeln an die gegenüberliegende Wand aus Angst und Zweifeln. Mein Herz läuft Schlittschuh auf blanken Nerven. Was habe ich getan? Grinsen. Das Beste und Verrückteste, was ich je tun konnte. Ich erfülle mir meinen Lebenstraum. Ich könnte tanzen. Dann springe ich allerdings nur auf, weil mir übel wird.

 

Welche Gefühle sind noch normal oder richtig? Sollte ich alles stehenlassen und weglaufen oder alles wegwerfen und stehenbleiben? Warum freue ich mich plötzlich nicht mehr? Werde ich das wirklich schaffen?

Hier kommt ein Schuss Mut vor den Bug der Panik-Titanik für euch alle, die ihr zusammen oder allein vor einer großen, langen oder weiten Reise steht!

Point of no Return: Unsicherheit vor dem Abflug

Prater, Wien, lonelyroadlover
Im Leben gilt: Traust du dich oder nicht? (Prater, Wien 2016)

Ich muss ein ganz kleines bisschen weinen, als ich meinen Freund und meinen besten Freund um sieben Uhr morgens am Düsseldorfer Flughafen vor der Sicherheitskontrolle umarme. Draußen vor den hohen Glasfenstern sind Dunkelheit und Nebel. Also exakt das, was sich auch in meinem Kopf befindet. Abgemixt mit Watte und Schokostreuseln zu einem Cocktail namens „Travelkiller“. Nur wenige Minuten später passiere ich eine Schranke, steige einige Treppenstufen hinauf und gehe um die Ecke. Als ich weiß, dass mich keiner mehr sehen kann, knie ich mich mitten in den Gang und berühre kurz den kalten Marmorboden. Ab jetzt bist du vier Monate lang vollkommen allein. Point of no return. Let’s go, sage ich mir leise. Dann stoße ich mich ab, schwanke elegant unter dem Gewicht meines Handgepäck-Rucksacks und gehe zum Gate.

Ängste vor großen Reisen sind normal – steh dazu!

Freiheitsstatue New York City, USA
Standhaftigkeit gegen jeden Zweifel (Freiheitsstatue, New York 2017)

Eine große Reise machen zu können, ist ein Privileg. Nicht jeder hat in seinem Leben zeitlich und finanziell die Chance dazu. Freunde, Familie und Unbekannte zerfließen entweder in Begeisterung oder erstarren vor Sorge und Kopfschütteln. In manchen Worten schwingt Neid mit. Dazu schlagen rechts und links Bilder von an Stränden herumspringenden Instagrammern ein. Die logische Folge: Unser Druck im Kopf steigt. Es muss perfekt werden. Es muss sich perfekt anfühlen. So wie auf den Fotos. So wie es alle erwarten. Wie ich es doch selbst erwartet habe!

 

Mit sarkastischem Lächeln kommen die ersten Kommentare: „Du wusstest doch, dass du deinen Partner, deine Familie und deine Freunde zurücklässt. Bis du blöd oder was?“, „Ewig lang hast du darauf hingearbeitet und jetzt auf einmal fällt dir ein, dass du Angst hast, so lang allein zu sein?“, „Uns war von Anfang an klar, dass das eine Schnapsidee ist!“

In dir schreit alles: Stimmt! Ich darf doch jetzt nicht plötzlich zweifeln! Ich sage dir hier und jetzt: DU DARFST!



Die Entscheidung – du darfst zweifeln!

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Blick ins Nichts - wer wäre da nicht nervös! (Dingle Peninsula, Irland 2016)

Wahrscheinlich steckst schon so intensiv in deinen Planungen, dass du vergessen hast, was du da eigentlich machst: Du hast eine riesige Entscheidung getroffen. Du hast nicht nur einen neuen Fernseher gekauft oder fährst für zwei Tage mit Freunden nach Berlin. Du hast Geld gespart, Mut gefasst, recherchiert, dich verrückt und frei gefühlt, Unterkünfte gebucht, Krankenversicherungen abgeschlossen, Visa beantragt, Impfungen vorgenommen, vielleicht deinen Job gekündigt oder sogar deine Wohnung aufgegeben. Bitte lies dir das zwei Mal durch und sage mir, wer denn bei so was NICHT nervös werden würde! Manche Leute kriegen schon Krisen, wenn der Toaster morgens nicht auf die richtige Stufe eingestellt ist. Da darfst du ja wohl mal ausflippen, wenn du demnächst gar keinen Toaster mehr hast!

 

Was ich dir sagen möchte: Deine Ängste sind in diesem Moment mehr als normal. Veränderungen bedeuten für Menschen immer Stress. Positiven oder negativen. Meist sogar beides. Setz dich nicht unter Druck. Vorfreude ist nur die eine Hälfte einer solchen Reise. Die andere ist einfach eine ab und an akut auftretende mittlere Krise. Nimm sie als etwas Natürliches an und lass dich von ihr nicht ins Bockshorn jagen. Wie oft warst du vor einer Abschlussprüfung wochenlang nervös – und am Ende hast du sie doch gemacht und bestanden. Nervosität und Angst sind unsere Begleiter bei den großen Dingen im Leben. Verzweifle nicht vor ihnen, sondern nimm sie an die Hand und geh weiter mit ihnen voran!

Freunde und Familie – du darfst vermissen!

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Fühl dich wie zu Hause - in einem Airbnb

Wie sagt man so schön: Man vermisst Dinge oft erst richtig, wenn sie nicht mehr da sind. Ein halbes Jahr vor meiner Reise habe ich meinen Freunden noch aufgeregt Landkarten gezeigt. Einen Monat vorher mit vielen noch mal schnell einen Kaffee getrunken. Egal, wie nah der Abflug rückte – sie waren ja noch da. Aber dann kann es auf einmal schnell gehen. Wie ein Wassereinbruch wird einem klar, dass man all das in der kommenden Zeit nicht haben wird. Da gibt es auch nichts schönzureden.

 

Auch hier möchte ich dir sagen, dass es menschlich ist, zu vermissen. Würdest du es nicht tun, dann wäre das ein schlechtes Signal für die Bedeutung deiner Freundschaften. Unsere Generation hat das Glück, durch Internet, Handys und Tablets fast immer und überall erreichbar zu sein. Stellt euch vor, ihr wärt in den 80er Jahren unterwegs gewesen. Natürlich kann dich über Skype niemand in den Arm nehmen und keiner hält deine Hand oder den Schraubenzieher, wenn du mitten in der Wüste eine Autopanne hast.

 

Gegen die eine schlechte Nachricht des Vermissens gibt es jedoch mindestens drei gute Nachrichten: 1. Du wirst es überleben, 2. Es wird dich unheimlich stark und selbstbewusst machen (was du aber erst einige Monate später merken wirst), 3. Du wirst nach deiner Rückkehr eine veränderte Bedeutung in deinen Bindungen sehen und sie auf eine Art wertschätzen, die du noch nicht kanntest – ja, selbst wenn du sie vorher schon geliebt und vermisst hast. Lass dich überraschen!

Alleinsein – du darfst dich einsam fühlen!

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Miese Laune bei Carmel-by-the-Sea

Meine Güte, ist der Strand weiß! Die türkisen Wellen schlagen hoch und ich trete fast auf eine pinke Muschel. Carmel-by-the-Sea, Highway 1, Kalifornien, USA. Ich klappe mein Buch zu, schmeiße es in meinen Rucksack und fahre in mein Airbnb. Ich fühle mich wie eine zertretene und vertrocknete Blume. Im Paradies. Heute ist mein Ich-fühl-mich-scheiße Tag!

 

Damals fühlte ich mich miserabel – auch weil ich mich selbst nicht mehr verstanden habe. Heute weiß ich, dass es unausweichlich ist, sich auf einer weiten oder langen Reise auch mal gottverlassen zu fühlen. Völlig unabhängig davon, wie schön es gerade um einen herum ist. Fast zwei Monate lang habe ich mich nicht einen Tag einsam gefühlt, weil ich das Alleinsein noch nie als große Belastung empfunden habe. Doch selbst mir ist es dann eben doch passiert! Falls dir schon vor der Abreise davor graut, habe ich ein paar erprobte Tipps:

 

1. Buche Unterkünfte, in denen du auf Menschen triffst. Dem einen liegen eher Hostels mit mehreren Betten, dem anderen gefällt Couchsurfing und dem dritten ein Privatzimmer in einer Airbnb-Wohnung, in der auch die Familie des Vermieters lebt.

 

2. Schaue oder frage bei diversen Facebook-Reisegruppen oder bei Couchsurfing nach, wer gerade in deiner Nähe unterwegs ist und vielleicht Lust hat, mit dir einen Ausflug zu unternehmen oder sich die Stadt anzusehen. Ich habe darüber schon spontan wirklich tolle Menschen kennengelernt und mit völlig Fremden Sightseeing gemacht.

 

3. Gehe mit Absicht an belebte Plätze und gönne dir etwas wie eine besonders große Pizza, ein Eis, eine Bootstour, eine Strandliege direkt am Ufer … Tu dir einfach bewusst etwas Gutes, weil du deprimiert bist und es verdient hast!

 

4. Gehe mit Absicht nicht raus. Ich habe den Fehler gemacht, von mir zu erwarten, dass ich jeden Tag in vollen Zügen genießen und nutzen muss, „wenn ich schon mal hier bin“. Doch auf langen und weiten Reisen musst du unbedingt auch mal Pause machen. Leg dich ins Bett, schau den ganzen Tag fern, bestell dir Essen und hab einfach auch mal Laune zum Ein-igeln.

 

5. Verabrede mit Freunden und Familie feste Zeiten, zu denen ihr telefoniert oder einen Videochat macht. Dann kannst du dich darauf freuen und vielleicht vorher noch entspannt etwas unternehmen, von dem du dann berichtest.

Angst vor der Reise – du kannst anfangen und aufhören, wann du willst

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All das hätte ich sonst nie gesehen (Bryce Canyon, USA, 2017)

Ganz wichtig bei Panik vor der Abreise ist, dass du dir etwas bewusst machst: Du kannst jederzeit aufhören und jederzeit nach Hause fliegen. Es ist keine Schande, wenn du merkst, dass das alles am Ende nichts für dich ist. Doch dafür musst du erst einmal losziehen.

Vor meiner Reise dachte ich, dass ich locker ein Jahr lang allein um die Welt reisen könnte. Aber das stimmte nicht. Nach vier Monaten war ich froh, wieder zu Hause anzukommen. So habe ich herausgefunden, dass meine nächsten Langzeit-(Solo)reisen wohl eher auf drei Monate beschränkt bleiben. Ist das ein Drama? Nein! Das ist es nicht.

 

Hab Mut und erkenne deine Ängste an. Sie sind da und es gibt keinen Reisenden, der sie nicht schon verspürt hat. Gönne ihnen Raum aber lass dich nicht von ihnen zurückhalten. Eine lange und weite Reise (allein) anzutreten, ist eine große Entscheidung. Es könnte viel schiefgehen. Aber eine lang geplante Reise abzublasen, ist eine genauso große Entscheidung. Es könnte das Beste sein, was du je tun wirst, auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt.

 

Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie ich vier Monate allein durch die USA gereist bin und was ich dabei gefühlt und erlebt habe, dann schau doch mal in mein USA-Tagebuch!

Kommentare: 2
  • #2

    lonelyroadlover (Montag, 25 Juni 2018 10:50)

    Hallo liebe Sandra!
    Wie schön, dass du dazu gekommen bist, den Beitrag zu lesen. :)
    Ich freue mich wahnsinnig, dass ich dich mit dem Text berühren konnte. Und genau: Loslegen muss man. Danach kann man immer noch ein Fazit ziehen und sich überlegen, was zu einem passt oder was man nächstes Mal anders machen würde.
    Für mich geht es in zwei Wochen erst einmal in die Normandie zum ersten Roadtrip des Jahres. Danach folgen noch weitere. Und inzwischen bin ich so erprobt, dass ich im Moment noch nicht einmal Angst davor habe, das Auto mitten in Paris abzuholen. :D
    Herzliche Grüße,
    Sarah

  • #1

    Sandra (Freitag, 22 Juni 2018)

    Das hast du so toll geschrieben, spannend und ich habe alles gefühlt.

    Und ja. Traut euch und fühlt und legt los, Brecht ab, wechselt die Richtung... Aber loslegen muss man.

    Wo geht deine nächste Reise hin?

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