Ich bin sechzehn und gehe in meinen Lieblingsbuchladen. Gleich neben der Eisdiele, wo der Typ hinter der Theke immer so aussieht, als hätte er schon mal jemandem einen Betonklotz an die Füße gebunden. Ich möchte das neue Buch von diesem bekannten, deutschen Thriller-Autor kaufen und gehe in die Krimi-Abteilung. Sebastian Fritzek oder so. Ich schaue unter FR nach. Doch da ist nichts. Nach wenigen Sekunden fühle ich mich so, wie eigentlich 24 Stunden am Tag: unsicher und dumm. Zwischen pathetisch und panisch. Dann kommt auch noch eine nette Buchverkäuferin und lächelt. „Kann ich helfen? Was suchen Sie denn?“ Alles dreht sich. Ich werde rot und schwitze. Ich spüre, wie die Worte in meiner Kehle verdunsten. „Nichts“, sage ich nur und will sterben. Dann laufe ich weg. Der Autor hieß Fitzek. Deshalb habe ich ihn unter FR nicht gefunden.
Nichts. Ganz viele Jahre in meinem Leben war ich nichts. Wenn ich das heute erzähle, glaubt mir keiner. Heute führe ich ein eigenes Unternehmen, spreche vor 100 Leuten auf Englisch in einem Museum und bringe wildfremde Menschen an Tankstellen mit spontanen Sprüchen zum Lachen. Was ist passiert?
Hier werfe ich einen sehr persönlichen Blick auf Themen, die viele etwas angehen, aber über die nur wenige offen reden. Mobbing, Selbstzweifel, unterirdisches Selbstbewusstsein. Wie man aus der Scheiße rauskommt und vor allem endlich begreift: Ich kann das. Und ich bin toll!
Sagen wir mal so: Ich war immer schon das komische Kind. Ich fand Kinder nämlich schon im Kindergarten scheiße. Die waren mir immer zu laut, zu vulgär, zu gemein. In der Schule wurde es dann noch schlimmer. Ein Versprecher und es wurde offen gelästert. Von denen, die etwas Besseres waren. Die sich gaben wie Models, während ich offenbar aussah wie ein Müllsack. Jedenfalls gaben sie mir das durch Blicke und Worte zu verstehen. Dadurch wurde ich noch unsicherer. Ich verhaspelte mich häufiger. Das Gelächter wurde größer. Ja, es gab scheinbar Wetten darauf, wann Sarah wieder etwas total Dämliches sagen würde. Irgendwann sagte ich gar nichts mehr. Ich wusste alle Antworten. Aber wenn ich den Mund aufmachte, war ich wie im Buchladen.
Manchmal wurde ich rot, während ich nur überlegte, etwas zu sagen. „Sarah, mündlich vier minus“, knallte mir die Lehrerin um die Ohren. Ja, dann war ich wohl jetzt offiziell scheiße mit der Tendenz zum Totalausfall. Passte zum Müllsack. Was Menschen, die sich zum Spaß an den Ängsten und Fehlern anderer ergötzen, nicht merken, ist, wie krass schnell der andere in eine Spirale nach unten gesogen wird. Wenig Selbstbewusstsein, mehr Unsicherheit, mehr Fehler, mehr Gelächter, weniger Selbstbewusstsein. Etwas, das einen auf Jahre kaputtmachen kann. Manche sogar für ein Leben.
Wenn ich nach Hause kam, gab es noch mehr Gelächter. Vier minus? Das hatte ich mir ja mit Sicherheit verdient. Für das Abitur wäre ich ohnehin viel zu dumm. Ja, für manche unvorstellbar: Es ist nicht überall „Unsere kleine Farm“ in der Familie. Wenn ich morgens losging, hatte ich Bauchschmerzen vor den Schulstunden. Wenn ich nachmittags nach Hause ging, hatte ich Bauchschmerzen beim Anblick der Einfahrt zum Hof. Wem ich davon erzählt habe? Niemandem. Denn wenn du dich fühlst, als wärst du nichts wert, dann glaubst du auch nicht, dass dich jemand ernst nimmt oder dir sogar helfen würde. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich mir sicher war, dass ich das alles sogar verdient hätte. Ein absoluter, totaler Tiefpunkt in meinem Leben. Nichts ging mehr.
Bis ich eines Tages in einem Zug saß. Tausend Kilometer von Zuhause entfernt. Ich war abgehauen. Einfach so. Ich schaute aus dem Fenster in die rasende Landschaft und plötzlich dachte ich: Entweder ich verrecke jetzt oder ich mache etwas. Es war ein Moment wie ein Kippschalter. Was war das eigentlich für ein Scheißdreck in diesem Leben? Immerzu hörte ich, was andere über mich redeten. Immer hatte ich es geglaubt. Die kann nichts, die ist hässlich, die ist dumm und ist ein Loser. Aber was sagte ich eigentlich über mich selbst? Wenn ich die ganzen Hater und Mobber mal auf stumm schaltete. War ich wirklich grundsätzlich hässlich, dumm und ein Nichts? Oder war mir das nur durch permanente, psychische Artillerie in meine Gedanken geschossen worden? War ich eigentlich total bescheuert, dass ich mir das jahrelang anhörte, ohne je daran zu zweifeln? Plötzlich war da eine Energie. „Denen zeige ich es“, sagte ich leise. Es war das erste Mal, dass ich mit gut fühlte. Nach Jahren. Plötzlich wusste ich, wenn nichts Gutes von außen kommt, dann muss ich selbst das Gute sein. Oder das war’s mit dem Leben.
Auf diese großartige Initialzündung folgten golfballdicke Rückschläge. Wenn ich mich im Sportunterricht mal wieder auf die Fresse legte oder mir Orangensaft über die Jacke schüttete. Ist es nicht krass, wie man in dieser Gesellschaft beurteilt und behandelt wird, wenn man etwas macht oder einem etwas passiert, das nicht in den Rahmen passt? Nach außen hin hatte sich also gar nicht viel geändert. Doch im Geheimen begann ich, an meiner Einstellung zu arbeiten. „Jetzt machst du das beste, verfickte Abitur aller Zeiten“, sagte ich zu mir selbst. „Weil ich weiß, dass ihr Unrecht habt, und ich werde es euch beweisen.“ Plötzlich war ich nicht mehr lethargisch, sondern wütend. Als in Chemie wie üblich affig gelacht wurde, während ich an der Tafel stand, wusste ich plötzlich Bescheid und schmierte mal eben alle Formeln hin. Erst glotzte meine Lehrerin, dann auch der Rest. „Sarah hat eine Eins im letzten Chemietest“, sagte eines der Supermodels, als hätte ihr jemand Phenolphthalein in die Fresse geträufelt. Als in Deutsch der Klausurenspiegel angeschrieben wurde, und es nur einmal die volle Punktzahl gab, höre ich ein Seufzen aus der coolen Reihe hinter mir: „Das ist eh wieder Sarah.“
Nein, es gab kein Happy End an diesem Punkt meines Lebens. Nachdem ich das Zeugnis in der Hand hielt, warf ich die Tür zu diesem Lebensabschnitt zu. Ich musste weg. Und ich meine: ganz weg.
Als ich mit dem Studium anfing, zog ich zugleich aus. Weg aus der Kleinstadt, in der ich am liebsten durch den Wald gelaufen war, weil dann keiner sehen konnte, wie ich über den Rinnstein gestolpert bin oder mich im Buchladen blamiert habe. Weg von der Familie. Weg von der Vergangenheit. Als ich die Uni betrat, glotzte keiner und sagte: „Alter, das ist Sarah, der alte Vollhonk!“ Niemand kannte mich. Tabula rasa.
Bevor ich das erste Mal eine Präsentation vor dem Kurs halten musste, schmiss ich mir Valium ein. Denn es war wieder da. Ich, wie ich vor Menschen stand, die lachten. Ich, die knallrot wurde und Schwitzflecken bekam. Ich, die auf einmal nur noch stammelte. So vieles war besser geworden. Doch alte Traumata sind wie Schmeißfliegen. Die kommen immer wieder zurück. Ich hielt die Präsentation. Nach dem Vortrag kamen Kommilitonen zu mir und fragten mich nach weiteren Infos, weil sie es so interessant gefunden hatten. Mein Professor sagte, er kann mir nur eine 1.2 geben und keine 1.0, weil ich so dermaßen „wie ein Maschinengewehr“ geredet hätte. Sonst sei es aber richtig gut gewesen. Momente, wie diese wiederholten sich. Bis auf einmal mein Designprofessor hinter mir stand und meinte: „Ich würde Sie gern für ein Stipendium vorschlagen.“
Vorsichtig drehte ich mich um. Da war niemand. Er lachte. „Ich meine Sie!“, erklärte er dann noch einmal nachdrücklich. Ich guckte blöde. Als ob. „Sie wissen schon, dass Sie zur Leistungsspitze gehören?“, fragte er ernsthaft. Nee, wusste ich nicht. Ich hatte halt einfach Bock, Journalismus zu studieren und ich gab einfach wieder mein Bestes. „Sagen Sie nicht immer einfach“, sagte mein Prof streng. Jahre später weiß ich, dass er vermutlich gesehen hat, in welchem Selbstbewusstseinsloch ich immer noch saß. Danke, Professor Dr. Liebig, dass Sie immer an mich geglaubt haben, auch wenn Sie meine Selbstzweifel über meine Bachelorarbeit in den Wahnsinn getrieben haben müssen.
Eigentlich war es eh komplett verrückt, Journalismus zu studieren. Da musste ich auf Terminen mit fremden Menschen reden. An jedem einzelnen Abend, an dem ich als Lokaljournalistin rausgegangen bin, hatte ich Schweißausbrüche. Vier Jahre nachdem ich weggegangen war von allem, was den Mist verursacht hatte. Doch ich wusste, der Dämon Angst musste bekämpft werden. Indem ich ihm in die Augen sah. Immer und immer wieder. Auch, wenn es nur sehr langsam besser wurde und oft sehr schwer war.
Später, nachdem ich angefangen hatte, als Social Media Managerin in einem Kunstmuseum zu arbeiten, sollte ich spontan die Direktorin bei einer Ausstellungseröffnung vertreten. „Sie machen das morgen in der Sparkasse. Es kommen auch nur so hundert Leute“, sagte sie lässig zu mir und drückte mir einen Wikipedia-Eintrag in die Hand. „Die Rede habe ich noch nicht geschrieben, das schaffen Sie schon!“ Seltsamerweise war mein erster Gedanke nicht mehr Das geht schief!, sondern Das traut sie mir zu!
Gegen Ende meines Jobs trank ich plötzlich Kaffee mit Ralph Ruthe, organisierte eine Pressekonferenz auf Englisch und schmiss das halbe Marketing.
Im Anschluss bin ich für vier Monate solo durch die USA gedüst, wo ich mich mit noch mehr Angst-Affen wie Flugangst, Angst im Dunkeln und Angst vor Reifenpannen duelliert habe. Und um noch ein Schippchen draufzulegen, machte ich mich danach als freie Texterin und Fotografin selbstständig. Arbeiten von überall her. Scheiß auf 9 to 5. Inzwischen bin ich seit mehr als zwei Jahren in meinem eigenen Unternehmen tätig und der Laden läuft.
Werden meine Neurosen irgendwann komplett verschwinden? Nein. Werde ich nie wieder Fehler machen oder mich unsicher fühlen? Nein. Wird mir jemals wieder jemand einreden können, ich sei dumm, hässlich oder nichts? Nein! Ganz bestimmt nicht. Denn die Spirale funktioniert auch andersherum: Gutes Selbstbewusstsein, mehr Sicherheit, weniger Fehler, mehr Anerkennung, mehr Selbstbewusstsein. Wenn ich mich heute mitten in der Stadt auf die Fresse lege, stehe ich wieder auf, lache, mache einen Spruch, der bestenfalls auch anderen noch ein Lächeln ins Gesicht zaubert, und gehe weiter.
Der Schlüssel liegt für mich im Selbstbewusstsein. Es ist quasi das Immunsystem gegen Angriffe von außen. Wie man es bekommt, wenn man am Boden liegt? Da gibt es sicher viele verschiedene Wege. Von einem Aha-Moment mit innerem Willen, wie ich ihn hatte, bis zur professionellen, psychologischen Beratung. (Die übrigens kein „Irrenarzt“ ist. Irre sind nämlich nur die, die einem so eine Scheiße antun). Das Wichtigste ist, dass ihr diese Spirale durchbrecht. Meine Tipps und Gedanken dazu:
Wenn du denkst, du seiest hässlich, wertlos, dumm oder fehlerhaft, dann mache dir klar, dass diese Eigenschaften gar keine allgemeingültige Definition haben. Beispiel: Meine Tante findet eine gelbe Wohnzimmerwand wunderbar freundlich, meinen Onkel erinnert sie an das verpisste Bahnhofklo seiner Jugend und meine Cousine meint, das passt alles nicht zu ihrem roten Sofa, sähe sonst aber ganz gut aus. Ob etwas hässlich, wertlos, dumm oder fehlerhaft ist, kann also nur jeder Mensch ganz allein für sich selbst bestimmen. Was andere Menschen also über dich sagen und denken, ist einfach nur ihre persönliche – und manchmal leider ablehnende und ekelhafte – Meinung. Es hat nichts, aber auch überhaupt gar nichts damit zu tun, wer du wirklich bist. Oder denkst du, nur weil irgendein Oberpenner sagt, dass Gelb eine Scheißfarbe ist, dass das jetzt allgemein für die ganze Welt gilt? Das wäre doch wohl lächerlich. Was hat der denn überhaupt zu sagen? Oder besser: Who the fuck cares? Denke daran, wenn nächstes Mal jemand etwas Abwertendes über dich sagt: Was weiß der schon von Gelb und who the fuck cares?
Das Wichtigste, das ich nach Jahren voller Selbstzweifel gelernt habe, ist: Ich bin toll! Und weißt du auch, warum? Weil ich Ich bin. Weil ich existiere und es mich nur ein einziges Mal gibt. Ich muss überhaupt nichts tun, können, beweisen oder sein, um toll zu sein. Tollsein ist etwas, mit dem man geboren wird. Es ist ein Grundrecht. Und zum Tollsein, gehört auch, scheiße zu bauen, sich zu irren, etwas Dummes zu sagen oder sich in der Stadt auf die Fresse zu legen. Denn wenn ich mich auf die Fresse lege, dann denken vielleicht drei Leute drumherum, dass ich blöd bin, keine Augen habe oder Elefantenfüße. Aber das sind bloß ihre persönlichen Meinungen. Also: Who the fuck cares! Ich weiß, dass ich über einen Stein gestolpert bin. Und das wird man in dieser verschissenen Welt ja wohl noch gepflegt tun dürfen!
Ich weiß, oft spielen äußere Umstände eine große Rolle, wenn wir uns unsicher, mies und wertlos fühlen. Und oft ist es schwer, sie zu ändern. Der Mobber sitzt auch morgen wieder in der Klasse oder am Arbeitsplatz, die Erinnerungen wiegen schwer und die Ängste erdrücken einen. Doch es gibt Dinge, die du selbst bewegen kannst. Jetzt sofort. Du weißt schon. Weil du toll bist! Dabei gibt es zwei Grundrichtungen:
1. Das Weggehen: Verabschiede dich konsequent von allem, was dir wehtut. Nach und nach. Breche den Kontakt ab zu Menschen, die dich verletzen und herabsetzen. Ja, auch Freunde und Familie. Schreibe Bewerbungen für einen neuen Job oder eine ganz neue Ausbildung, wenn du jeden Tag mit Bauchweh zur Arbeit gehst. Wechsele die Schule. Zieh aus, zieh weg. Gehe dorthin, wo dich und deine Vergangenheit keiner kennt. Drücke auf „Reset“.
2. Das Stellen: Einige Dinge lassen sich nicht durch Weggehen regeln. Oder vielleicht möchtest du das auch gar nicht. Ich wollte meinen Traumberuf als Journalistin nicht wegwerfen, nur weil ich Angst hatte, mit fremden Menschen zu sprechen. Dann stelle dich. Blicke die Angst an und tu genau das, was der Schwitzflecke bereitet. Fange klein an. Wenn du Angst vorm Autofahren hast, dann brettere nicht gleich auf die A45, sondern fahre erstmal sonntags auf einem leeren Parkplatz rum. Mache dir bewusst: Du wirst nicht direkt beim ersten Mal deine Angst verlieren. Du wirst Rückschläge haben. Gibt nicht auf. Ich glaube, erst bei meinem fünfzigsten Zeitungstermin war ich zum ersten Mal nicht nervös. Bleib beharrlich und weiche nicht zurück vor dem alten Affen Angst. Wenn du beim Fußball nach einer Minute ein Gegentor bekommst, rennst du ja auch nicht in die Kabine.
Vor zehn Jahren hätte ich diesen Text nicht schreiben können. Selbstbewusstsein ist eine komische Sache. Es kommt nicht über Nacht, aber dann ist es plötzlich da. Heute kann ich auf all den Scheiß zurückblicken und sagen: Es ist okay. Weil mich unter anderem der Scheiß zu der Person gemacht hat, die ich heute bin. Weil mich die Überwindung stark gemacht hat. Und weil ich heute weiß: Ich bin toll!
Lonelyroadlover (Sonntag, 17 Januar 2021 21:09)
Alter Scholli, Helen. Ich musste deinen Text drei Mal lesen. Wow. Ich bin immer noch total bewegt. Herzlichen Dank für deine Offenheit. Ich bin richtig geflasht und habe mich sofort gefragt, was du dich auch gefragt hast: Wie vielen von uns ging es wohl genauso?
Du wirst lachen, aber ich habe immer gedacht: "Mensch, Helen, die weiß alles, die ist echt clever und so beliebt." EHRICH! Ich hätte nie gedacht, dass du dich auch so scheiße gefühlt hast und dass du auch so erleichtert warst, als diese Zeit endlich vorbei war. Krass, wie wenig man tatsächlich voneinander mitbekommt, weil man immer mit seinem eigenen Kram und Gram beschäftigt ist. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätten wir zusammen "rumstrebern" können. :D
Ich fand es damals so mutig und toll von dir, nach Frankreich zu gehen. Ich habe jeden deiner Blogartikel gelesen. Und ich habe gemerkt, dass du da eine tolle Zeit hattest. Ich freue mich wahnsinnig für dich, dass dir das so viele Türen geöffnet hat und 4 Sprachen - wow! So klasse. :) Wir müssen immer wir selbst bleiben, weil wir schon super sind, wie wir immer waren. Nie wieder lassen wir uns von jemandem unterkriegen und kleinmachen. YAY!
Ganz herzliche und liebe Grüße
Sarah
Helen (Dienstag, 05 Januar 2021 14:32)
Liebe Sarah,
Ich habe gerade schmunzelnd deinen tollen Jahresrückblick 2020 gelesen und bin dann über diesen Beitrag gestolpert. Und ich bin traurig geworden und bedaure etwas: Ich war zu Schulzeiten so dermaßen mit meinem eigenen Scheiß beschäftigt, dass ich nicht gemerkt habe, dass es noch jemandem so geht. Das tut mir leid. Ich hätte dir damals gerne gesagt, dass du nicht alleine bist. Wer weiß wie vielen es noch so ging?
Ich habe die Schulzeit gehasst. Immer wenn ich heute jemanden sagen höre: „Oh ja, die Schulzeit würde ich jetzt so gerne noch mal erleben“, dann muss ich kotzen. Niemals würde ich diese Kackzeit nochmal mitmachen wollen. Ich hatte ebenfalls Bauchschmerzen auf dem Schulweg. Diese oberflächliche, klischeebehaftete, idiotische Welt hat mir wehgetan. Ich wurde in die Rolle der Streberin gedrückt, ich war immer zu uncool und meine „Freunde“ aus der Unterstufe waren plötzlich gegen mich. Dabei bin ich doch jahrelang so eine brave Mitläuferin gewesen. Warum hat sich das nicht gelohnt? Sobald ich mich gemeldet habe, wurde hinter mir laut aufgestöhnt: „war ja klar, dass sie das weiß“. Und weißt du was? Irgendwann gegen Ende der 11. Klasse hatte ich auch so einen Punkt: Warum sollte ich aufhören mich zu melden? Ich bin doch nicht dumm und versaue mir meine Note, weil die mich jeden Tag zu ihrem Opfer machen. Ihr wollt die Streberin? Dann kriegt ihr sie. Und zwar volles Rohr. Das hatte dann zur Folge, dass ich noch unbeliebter war. Ich dachte, dass ich nun mal so bin: nicht liebbar. Dann endlich die Befreiung: das Abi. Ich war endlich raus aus diesem Schubladenhaufen. Die Barbies standen mir nicht mehr im Weg.
Und weg hier: ab nach Frankreich. Dort habe ich mir von Anfang an gedacht: hier bin ich ich. Meine wahren Freunde blieben so oder so mit mir in Kontakt. Es war tatsächlich ein tabula rasa Moment. Plötzlich lachten Menschen über meine Witze, luden mich zu sich ein und ich konnte Schülern*innen auf ihrer Sprache etwas über den Zweiten Weltkrieg erklären. Die Anne Frank Austellung war meine Chance und hat mich dorthin gebracht, wo ich jetzt bin. Ich bin mutig, ehrlich und selbstbewusst. ich helfe jenen, die eine zweite Laute Stimme brauchen. Ich spreche vier Sprachen fließend und ich umgebe mich keinesfalls mit Menschen, die toxisch sind. Nie mehr sage oder tue ich etwas, was ich nicht auch 100% ig so meine. Es lohnt sich niemals eine andere sein zu wollen.
Du hast recht: es ist okay. Wir sind wir. Wir sind toll! Danke, dass du darüber gesprochen hast.
Lonelyroadlover (Sonntag, 26 Juli 2020 13:42)
Hi Nadine!
Wie schön, dass dich der Text erreicht und bewegt hat. Und ich freue mich von Herzen, dass auch du diesen Scheiß überwinden konntest! Es ist so wichtig, dass man es schafft, sich davon zu befreien. Und solche Geschichten zeigen ja auch immer wieder, dass es einigen auch nach vielen Jahren noch gelingt, endlich aus diesem Muster auszubrechen. Ich wünsche dir alles Gute!
Lieben Dank fürs Lesen. :)
Sarah
Nadine (Freitag, 24 Juli 2020 22:33)
Hallo Sarah,
Deine Geschichte spricht mir aus der Seele! Auch ich war bis vor ein paar Jahren in diesen Situation und gefangen in totaler Unsicherheit.
Ich konnte mich in vielen Zeilen wiedererkennen und an diese Zeit denken. Umso glücklicher bin ich darüber so zu sein wie ich bin und das es mir auch mittlerweile wirklich egal ist, was andere von mir halten und ich da auch einfach drüberstehen kann. Das wäre noch vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen.
Danke für deine offenen, ehrlichen und total authentischen Texte. Ich lese sehr gerne von dir.
Mach genauso weiter.
Liebe Grüße,
Nadine
lonelyroadlover (Dienstag, 02 Juni 2020 20:22)
Hi Filipe,
vielen Dank für deinen Kommentar. Ich kann mir vorstellen, dass es manchmal nicht leicht ist, alles in Worte zu fassen, was einem gerade bei so einem Artikel durch den Kopf geht. Ich hoffe auf jeden Fall, dass dir der Text etwas gebracht hat. :) Ich denke, das mit deiner Skandinavien-Reise können wir sicher noch nachholen. Wenn ich mal in Berlin bin oder du in NRW, können wir uns gern treffen!
Liebe Grüße
Sarah
Filipe (Montag, 01 Juni 2020 21:35)
Liebe Sarah,
ich müsste dir jetzt ganz viel Schreiben um alles rauszuholen, was mich gerade bewegt! Das geht jetzt nicht. Ich bin aber sehr berührt von deinem Text und freue mich über deinen Weg, über deinen Mut und über die Veröffentlichung deiner Erfahrungen!
Eigentlich finde ich es schade, dass ich dir meine Geschichte (die Reisen durch Skandinavien und alles was damit zusammenhängt) nicht fertig erzählt hatte. Es war noch nicht die richtige Zeit dafür vorhanden. Evtl. (wenn du mal in Berlin sein solltest) würde ich mich sehr freuen mit dir in Austausch zu kommen. Das sagte ich dir ja bereits.
Alles Gute dir und weiterhin viel Freude am Leben.
Filipe
Lonelyroadlover (Sonntag, 31 Mai 2020 13:07)
Hallo Julia!
Lieben Dank für deinen Kommentar. :) Ich freue mich sehr, dass dir der Text etwas geben konnte. Ich finde es unheimlich wichtig, über solche Dinge offen zu reden. Wenn sie bloß einer Person Mut geben oder Gedanken anregen, dann war die Arbeit nicht umsonst!
Liebe Grüße,
Sarah
Julia (Mittwoch, 27 Mai 2020 21:58)
Liebe Sarah,
Was für ein toller, authentischer und beeindruckender Text!
Deine mutigen Worte haben mich an vielen Stellen zum Nachdenken gebracht! Danke dafür!
Liebe Grüße, Julia
Lonelyroadlover (Dienstag, 26 Mai 2020 21:36)
Hey Peter,
vielen Dank. :) Ich kenne auch Leute, die noch im hohen Alter damit Probleme haben und nie auf einen grünen Zweig gekommen sind. Das tut mir so leid, weil ich das Potenzial in diesen Menschen sehe aber - wie du schon sagst - es ist so schwer, an sie heranzukommen. Und ja, manchmal erreicht man noch das Gegenteil. Sigh.
Ich finde deine Einstellung zu der Sache sehr gut. Sobald man etwas darauf gibt, was andere sagen, geht alles wieder von vorne los. Also. Einfach leben!
Lieben Gruß!
Schön, dass du hier bist. Deine Gedanken sind immer eine Bereicherung.
Sarah
Don Pedro (Montag, 25 Mai 2020 21:41)
Sarah,
das Thema hast Du toll dargestellt. Deine Entwicklung ist bemerkenswert, da das nicht jeder so übersteht. Ich kenne welche, die mit 60 Jahren noch in dem Schneckenhaus wohnen, das sie sich schützend gebaut haben, um nicht anzu"ecken".
Ihr Verhalten ist immer noch ängstlich und ihre Sprache selbstdiskrimierend.
Aufbauend einreden ist oft sinnlos, da das "Wasser auf die Mühlen" geben oft Aggressionen auslöst (Selbsterkenntnis).
Diese Erkenntnis alleine haut denen aber dann (in dem Alter) auch nicht mehr den Schalter rum.
Selbst geht es mir nach jahrzehntelanger Selbstzweifel immer besser, da mich viele Leute, Situationen und Depressionen am Arsch lecken können. Ich bewerte nicht mehr und lasse mich nicht mehr bewerten. Wer das im negativen Sinne macht, fällt sofort dem Fallbeil zum Opfer.
Schön, dass es Dich gibt Sarah. Es ist sehr lehrreich, Dir zu folgen.