Meine nassen und kalten Finger klammern sich an die schwarzen Wurzeln. Meine Lungen brennen, mein Knöchel schmerzt.
„Du hast Dreck im Gesicht“, ruft mein Freund von oben, während ein paar rostrote Steinchen geräuschvoll zehn Meter in die Tiefe knallen. Ich fasse mir mit der Hand an die Nase. Erde. Erde und Blut. Keine Ahnung, wo es herkommt. Vielleicht von dem kleinen Absturz, den wir gerade hatten. Ich wische meine Finger an meiner mit Tropfen übersäten Regenjacke ab. Dann greife ich nach dem nächsten Felsvorsprung und ziehe mich weiter hoch. Der Blick über die schneebedeckten Berge der Absaroka Range wird immer atemberaubender, Nebel liegt zerrissen zwischen den schroffen Gipfeln. Auf dem schlammigen Grund Spuren von Elchen.
Ich könnte jetzt auch im Warmen sitzen und eine Serie schauen, in der jemand mit Blut in der Fresse durch einen Wald rennt. Mein Problem war schon immer, dass ich selbst dieser jemand sein wollte. Und je mehr ich in den vergangenen Jahren zu dieser Person geworden bin, desto weniger hält mich drinnen. Wo die Wände näherkommen. Wo ich mich jeden Tag fremder fühle, an dem ich barfuß durch Schnee gelaufen bin und mit beiden Händen in die samtweichen Blätter des Frühlings gegriffen habe.
Es gibt nichts, was ehrlicher und absoluter ist, als mit dem Herzen voran in die Natur zu springen. Um uns selbst wiederzufinden. Das Kind in uns. Und vielleicht sogar unsere wahre Bestimmung.
Meine Hobbys sind Fotografieren, Schreiben und Reisen. Das habe ich vor über acht Jahren mal in mein Profil gerotzt, als ich mich bei Facebook angemeldet habe. Hobbys. Etwas, das man als Randerscheinung neben dem echten Leben tut und wozu man meistens keine Zeit hat. Doch irgendwie hat sich das schon immer falsch angefühlt. Also bin ich rausgegangen. Um herauszufinden, was geht. Wieso ich keine Zeit habe für das, was sich richtig anfühlt. Was eigentlich das echte Leben ist. Und mit jeder Wolke, die ich auf der Wiese liegend betrachtet habe, jeder Welle, die bunte Sandkörner auf meine Zehen gespült hat und jedem Baum, der mich mit dem Geruch von feuchtem Holz tiefer in die Wälder gezogen hat, habe ich mehr erkannt, wer ich bin und was ich kann.
Loslassen. Vor allem loslassen. Von all den Vorstellungen, mit denen wir aufwachsen. All den Rahmenbedingungen, mit denen wir an die Wand geschlagen werden. Allem, was wir glauben, haben zu müssen. Allem, was wir glauben, sein zu müssen.
Der erste Schritt ist, all das in Frage zu stellen. Einmal den ganzen verdammten Tisch leerzuwischen von den Lebensentwürfen und Plänen. Denen, die andere für uns gemacht haben und denen, die wir selbst gezeichnet haben. Einfach mal den Locher aufreißen und den ganzen verschissenen Inhalt durch die Bude pusten. Was, wenn er kein Abfall ist, sondern Konfetti. Und wir es die ganze Zeit von der falschen Seite betrachtet haben?
Was, wenn ich keinen Schirm brauche, weil ich das Gefühl liebe, wie der Regen in meine Augen läuft, als würde jemand über mir vor Freude weinen? Was, wenn ich keine Schuhe trage, weil ich die Hitze des Asphalts, die Sanftheit des Kornfeldes und den Staub des Feldweges unter meinen Füßen spüren will? Was, wenn ich auf einmal dort anfange zu leben, wo wir alle herkommen? Von draußen. Von eisigen Nächten unter Sternen. Ich meine, tausenden von Sternen, weit weg von der Lichtverschmutzung großer Städte. Von Bergüberhängen, die jederzeit abbrechen können. Von rotem Wüstensand, der in der Mittagshitze verbrennt. Von Waldwegen, die sich in der Unendlichkeit verlieren und auf keiner Karte der Welt verzeichnet sind.
Da draußen ist etwas, das wir vergessen haben. Von dem wir uns abschotten. Etwas, das wir versuchen, in Blumenbeete zu pressen. Auf Fensterbänke. Damit wir es geordnet betrachten können. Vielleicht weil wir irgendwo im Hinterkopf wissen, dass es uns überwältigen könnte, wenn wir den Keramiktopf zerschmeißen und es wachsen lassen. Die Natur. Vor unserem Fenster. Und in unserem Herzen. Beides gehört zusammen. Egal, wie sehr wir versuchen, es voneinander zu trennen. Wir haben so viele Ausreden. Die Arbeit. Keine Zeit. Regen. Winter. Die ganze Scheiße, die wir gekauft haben von dem Geld, für das wir arbeiten gehen, weshalb wir keine Zeit haben.
Zerschmeiß den ersten Keramiktopf. Du musst ja nicht gleich das ganze Gewächshaus niederbrennen. Aber wie verrückt wäre es, am nächsten Sonntagnachmittag mit Scheißwetter die Spinnweben von der Regenjacke ganz hinten im Schrank kratzen, die Tür aufzumachen und rauszugehen. Dem ganzen Jack-Wolfskin-Multifunktionskack endlich mal eine Funktion zu geben.
Wohin gehst du? Weg. Raus. Es gibt kein Ziel. Genau das ist der Punkt. Es geht nicht darum, wo hinzugehen, sondern am Ende wo herzukommen. Blätter berührt zu haben. Baumrinde gefühlt zu haben. An Blüten gerochen zu haben. Zu spüren, wie der Wind in die Haare greift. Zu sehen, welche Farben das Grau des Himmels hat. Mitten im Wald aufzublicken und überrascht zu sein, wie sich die Baumkronen wie ein Dach über den eigenen Kopf neigen (das funktioniert übrigens an fast jedem Punkt im Wald!).
Denk nicht an deinen Job, an dein Handy, an dein Abendessen. Denk überhaupt nicht nach, sondern sei. Sei einfach da. Vergiss die Zeit. Stell dich hin und spüre den Boden. Wie fest er ist. Manchmal fängt er genau in diesem Moment an, sich zu bewegen. Schließe die Augen und spüre die Luft, die Temperatur, den Wind. Höre. Die Vögel, die Autos, das Wasser. Wie der Moment auf einmal zu einem dieser Musikvideos wird, in denen alles perfekt ist. Wie du vergisst, dass „schlechtes“ Wetter ist. Weil es so was in Wahrheit nämlich gar nicht gibt. Wie damals, als du Kind warst. Und immer etwas machen wolltest. Scheißegal, ob es in Strömen gepisst hat oder 30 Grad im Schatten war. Weißt du noch?
Als ich klein war – okay, danach bin ich auch nicht mehr wesentlich gewachsen – habe ich mit meinem Papa Schiffchen aus Korken gebastelt und mit Zahnstochern kleine Masten angeklebt. Mit bunten Fahnen, die wir aus der Fernsehzeitung ausgeschnitten haben. Dann sind wir zu dem kleinen Bach im Wald gegangen. Ich habe Dämme aus Steinen gebaut. Regenwürmer gerettet, hatte nasse Füße. Und ein fettes Grinsen im Gesicht.
Jahre später steckte ich fest in Schubladen, Büros, Bilderrahmen, die andere für mich gezimmert hatten. Die ich mir selbst gebaut hatte, ohne es zu merken. Immer mit dem latenten Gefühl, das Leben von jemand anderem zu leben, ohne es definieren oder ändern zu können. Bis ich anfing, zu reisen. Und auf einmal am Horizont etlicher Road Trips, Unsicherheiten, Ängste und überwältigender Erlebnisse das kleine Korkenschiff auftauchte. Mit unklaren Umrissen, neblig. Aber mit einer Anziehungskraft, die größer war als die des Mondes auf den Ozean.
Ich warf den ersten, kleinen Keramiktopf und bereiste einen Haufen Hauptstädte in Europa. Dann ließ ich einen größeren Pflanzkübel fallen und begann, Autos zu mieten und an Küsten entlangzufahren. Bis ich die ganze Fensterbank leerräumte und vier Monate lang allein durch die USA reiste. Nur, um danach endgültig das gesamte Gewächshaus mit angrenzendem Garten abzufackeln. Indem ich meinen festen Job hinwarf, mich als digitale Nomadin selbstständig machte, Menschen hinter mir ließ, die meinen Weg nicht mitgehen konnten und wollten und mir ein Tiny House kaufte, in dem ich nur noch das Nötigste habe. Das, was ich wirklich brauche. Das, von dem ich gerade auf beängstigende Weise merke, dass es immer noch viel zu viel ist. Denn im Moment bin ich mit einem kleinen Handgepäckkoffer für fünf Monate bei meinem Verlobten in den Rocky Mountains und habe die Hälfte der Sachen, die ich mitgenommen habe, noch überhaupt nicht benutzt. Noch überhaupt nicht vermisst.
Wenn ich hier draußen zwischen zerfetztem Nebel, tiefgrünen Tannen, türkisen Flüssen und kleinen Holzhütten bin, dann gibt mir die Natur alles, was ich brauche, um der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Ich habe ein Paar Schuhe, eine Hose, eine Jacke und blute fröhlich mit Dreck im Gesicht durch die Gegend. Nie in meinem Leben war ich reicher. Nie in meinem Leben habe ich mehr besessen. Nie im Leben habe ich ehrlicher gelebt. Das Gefühl, zu sein. Mit weit offenen Augen, weit offenem Herzen.
Manchmal beginnt alles mit einem Sonntagsspaziergang im Regen. Manchmal muss man anfangen, Dinge zu zerschmeißen, um zu finden, was man verloren hat, ohne es zu merken.
lonelyroadlover (Dienstag, 06 August 2019 06:09)
Danke für die Brandrede, Peter! :)
Genau das ist es. Das GEDÖNS. Das, was wir kaufen von dem Geld für das wir arbeiten, welshalb wir das Tageslicht nicht sehen und keine Zeit haben, das GEDÖNS überhaupt zu benutzen. Freude und Zufriedenheit kommt aus meiner Sicht definitiv nicht von materiellem Scheiß.
Und ich finde deine Kindheitserinnerungen toll. Danke, dass du die geteilt hast! Genau so muss es wieder sein. Das Sein. Zurück zu den Wurzeln. Weg von dem ganzen Müll, der zwischen uns und der Wirklichkeit liegt. Ja, da sind regeln. Und nee, die machen es einem nicht immer einfach. Aber wenn man Biss hat und bereit ist, auf ein paar Annehmlichkeiten zu verzichten, dann ist viel möglich.
Lass uns nicht aufgeben!
LG
Sarah
Don Pedro (Donnerstag, 01 August 2019 10:53)
Genau um DAS geht es im Leben. Zu erkennen, dass das ganze verschissene Gedöns um einen herum völlig unwichtig ist. Das Materielle, das mann/frau sein bisheriges Leben angehäuft hat und meinte unbedingt zum Leben zu brauchen, ist nur Ablenkung vom Wesentlichen.
Das Wesentliche ist nämlich in der Natur zu SEIN und zu genießen, was sie einem gibt und mit sich selbst im Reinen sein.
Ich kann mich auch noch sehr gut daran erinnern, wie ich mit Elterns und deren Freunden mit Kids z.B. in den Steiermarker Bergen (um den Dachstein) öfter die Ferien verbracht haben. Wir Kids bauten Gebirgsbach-Staudämme um ein verschüttetes Wasserrad-Mühlen-Werk wieder in Gang zu setzen, fällten morsche Bäume, sammelten Pilze und waren den ganzen Tag mitten in der Natur.
Das versuchte ich dann in meinem damaligen Heimatort München in unserem Wohnkomplex auch mit Gebüsch-Kartoffel-Feuer, Grassoden-Höhlen-Bau, Pfeil und Bogen-Spiel und scheiterte immer wieder an den "Regeln", die die Gesellschaft erstellte. ...