Am Himmel ist keine Wolke, die die Strahlen der Sonne aufhält. Sie fallen auf die Blumen und die kleine Kapelle. Spatzen tschilpen fröhlich in der hellgrünen Buchenhecke. Es riecht nach Rindenmulch und Sommer. Es ist ihr Wetter. Bunt, warm, voller Energie. Auf der hellen Urne sind Strand, ein Segelschiff und eine Möwe eingraviert. Das große Foto daneben habe ich vor etwa einem Jahr geschossen, als wir gemeinsam auf Reisen waren. Sie lacht. Um ihre Augen Falten, die Güte, Neugier und noch mehr Lachen in über 80 Jahren gegraben haben.
Alles in diesem Moment ist so SIE. Kein Regen, kein Trauermarsch, keine Lethargie. Ich sehe einen Zitronenfalter vor mir auf dem Schotterweg, bevor alles verschwimmt. Es hätte keine perfektere Beerdigung sein können. Für einen Menschen, der mein Leben mit seinem Mut, seiner Unerschrockenheit, seiner Hartnäckigkeit, Warmherzigkeit, Verrücktheit, Reiselust und schließlich dem wortlosen Abschied inspiriert und für immer verändert hat: Meine Oma Erika.
Teneriffa 2012. Es ist heiß und kein Baum wächst mehr zwischen den schroffen Felsen. Vorhin habe ich sie noch mit ihrem Wanderstock gesehen. „Wo ist sie denn jetzt schon wieder?“, fragt mein Opa Horst zugleich besorgt und belustigt. Wir sehen uns um. Vielleicht ja schon im Café? Nein. Natürlich nicht! Ich lege meine Hand an meine Stirn und sehe sie. Zwischen den großen Steinen, auf dem Weg nach oben. Wild mit dem Stock fuchtelnd und unbeirrt.
Mein Opa folgt meinem Blick: „Das gibt’s doch nicht!“ Dabei weiß er ganz genau, dass es das gibt, denn schließlich ist er schon seit über 60 Jahren mit meiner Oma verheiratet.
Mit der Frau, die sich so lange mit dem Bauamt angelegt hat, bis sie endlich ihr Haus auf dem vererbten Grundstück bauen durfte. Die mal schwarz Motorrad fuhr und lieber für einen Tag ins Gefängnis gehen wollte, als dafür 10 Mark Strafe zu zahlen. Die mit dem Fahrrad in Straßenbahnschienen feststeckte und böse stürzte, um danach noch 20 Kilometer zu Ende zu radeln, weil es uncool gewesen wäre, direkt zum Arzt zu gehen.
Meine Großeltern sind immer viel gereist. Auf den Schultern meiner Oma saßen als Begleiter stets Neugier und Risikobereitschaft. Sprachbarrieren überstieg sie trotz weniger Englischkenntnisse mit leichtem Hüpfen. In einem spanischen Krankenhaus gestikulierte sie einmal aufgebracht und protestierte erfolgreich: „I go home!“
Die höchste Welle am Strand war gerade interessant genug, der Badeanzug auf jeder Wanderung und Fahrradtour im Gepäck. Für den Fall, dass sich spontan ein kleiner See auftat. Als wir mit einem Kanu unterwegs waren und ein großes Schiff hinter uns hupte, lehnte sie sich zurück. „Ach, das rammt uns doch nicht!“ Ich spüre noch heute die Blasen an meinen Handflächen, nachdem ich panisch mit dem Ruder ins Wasser stach und Schweißausbrüche bekam.
Meine Oma war der Mensch, der immer an mich glaubte, wenn es kein anderer mehr tat. Der mir heimlich Geld zusteckte, damit ich zu Rock am Ring fahren konnte und sich bunte Indianerfedern aufsetzte und für mich ein Zelt im Garten aufbaute, damit ich als Kind authentisch Wilder Westen spielen konnte.
Und dann kam der Anruf. Schlaganfall. Kurz vorher war sie noch mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, hatte Wolle für einen neuen Pullover gekauft.
Es war mein Lieblingsfilm, mein Lebensfilm, der plötzlich riss. So heftig und scharf, dass mein Herz zu bluten begann, bevor meine Augen weinen konnten. Meine Oma war immer wieder aufgestanden. Es war unmöglich, dass sie plötzlich eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht war. Einfach so. Das war nicht ihr Stil. „Warum hast du nichts gesagt?!“, schrie ich stumm, lief barfuß durch den Garten und verlor jedes Gefühl für die Zeit zwischen Himmel und Erde. Wie ein leerer Zug donnerten die folgenden Tage an mir vorbei. Hielten an keiner Schranke und keinem Bahnhof.
Das Leben war ein Arschloch. Und es war endlich. Für jeden. Manchmal einfach so. Keine Ansagen, keine Stornierung, kein Schienenersatzverkehr. Endstation. Licht aus.
Während ich mich wie verrückt durch die Semesterprüfungen an der Uni prügelte und so tat, als wäre ich anwesend und nichts passiert, begriff ich langsam, was geschehen war.
Die gemeinsame Reise, die wir im vergangenen Jahr unternommen hatten, war unsere letzte gewesen. Das gemütliche Weihnachten mit den geschnitzten Bergmännern und Pyramiden würde nie wieder so sein wie es immer gewesen war. Ich würde nie wieder die Geschichte mit dem Motorrad und dem Hausbau hören und dazu das freche Blitzen in den Augen sehen. Wir würden nie wieder vor einem großen Schiff flüchten, ein Zelt bauen, uns in den Arm nehmen.
Ich hätte zusammenbrechen und mich verkriechen können. Doch meine Oma war nicht nur mein Leben lang eine gute Freundin, sondern auch eine Inspiration für mich gewesen. Seltsamerweise wuchs diese Bedeutung um ein Vielfaches, nachdem ich die ersten Wochen und Monate überstanden hatte. Ich dachte an meinen Kindheitstraum, einmal mehrere Monate lang quer durch die USA zu reisen. Und statt am Grab zu sitzen und zu weinen, packte ich unsere gemeinsame Fahne aus Lebenslust und Reisespaß und hisste sie höher, als je zuvor. Schwenkte sie gegen den Wind. Und versprach uns, dass ich nie aufhören würde, mein Leben zu leben und weiterzumachen.
Als ich vier Jahre später im Flugzeug nach New York saß und mein Magen kribbelte wie Ahoi Brause, blickte ich auf den leeren Sitz neben mir. Und plötzlich war sie da. Nicht physisch, nicht als Geist oder Einbildung. Aber ihr Spirit war direkt neben mir. In diesem Moment wusste ich, sie würde an meiner Seite stehen, wo auch immer ich war. Auf jeder endlosen Fahrt durch die Wüste, in nächtlichen Großstädten und auf dem Gipfel der höchsten Berge. Eine unfassbare Kraft und ein Glücksgefühl wie Schokokuchen strömten in mein Herz. Solange ich da war und meinen Träumen folgte, würde auch sie nicht wirklich sterben. Bis dahin hatte ich gedacht „Im Herzen weiterleben“ wäre bloß ein scheiß Spruch auf grauen Trauerkarten. Doch in diesem Augenblick spürte ich, was es bedeutete.
Als ich nach über 6.000 Kilometern im Auto von Chicago über Los Angeles nach San Francisco kam, stellte ich mich an die im Dunst schimmernde Golden Gate Bridge und setzte langsam meine Kopfhörer auf. Es gab da dieses eine Lied, das ich seit der Beerdigung nicht mehr gehört hatte. Und jetzt war die Zeit gekommen, auch diese letzte Barriere in meinem Kopf einzureißen. Mit Blick auf die Brücke, die ich schon als Kind einmal in meinem Leben sehen wollte, setzte ich mich in das hohe Gras an den Klippen und drückte auf „play“.
Ich hatte gedacht, dass ich schrecklich weinen würde. Doch am Ende stand ich mit erhobenen Armen über dem Verkehr und tanzte zwischen Hupen, Wind und Wellenrauschen.
Liebe Oma. Fünf Jahre ist es her, dass du gegangen bist, ohne Tschüss zu sagen. Das nehme ich dir heute noch übel. Doch wenn ich meine Hand ausstrecke – egal auf welchem Fleck der Erde – dann spüre ich dich. Wie du lachst. Am Himmel ist keine Wolke, die die Strahlen der Sonne aufhält. Es gibt nichts, was mich mehr aufhält, das Leben so erfüllt und ehrlich zu leben, wie du es immer getan hast. Gegen alle Widerstände, alle Vernunft, alle Risiken. Denn du hast mir in Wahrheit etwas viel Wichtigeres als Tschüss gesagt: Morgen könnte es vorbei sein.
Lonelyroadlover (Donnerstag, 11 März 2021 15:13)
Liebe Kasia,
das hast du fein beobachtet. :) Ich habe in der Tat einiges von meiner Oma. Sie war immer verrückt und neugierig und einfach nie "alt". Wenn wir immer versuchen, Neues zu entdecken, auszuprobieren und uns was zu trauen, dann sind wir als alte Damen auch mal so. Vielleicht alt von der Zahl her, aber nie im Herzen.
Liebste Grüße
Sarah
Kasia Oberdorf (Donnerstag, 11 März 2021 13:48)
Liebe Sarah,
sehr berührend.
Bist du ein bisschen wie deine Oma? So wie du sie beschreibst, könnte ich meinen, etwas von ihr in dir zu sehen. Deine Oma gehörte zu dem Schlag alter Damen, wie ich es einmal sein möchte. Immer obenauf. Voller Abenteuer. Für Menschen wie sie (und dich...) ist klar, dass das Leben immer etwas zu geben hat. Das ist inspirierend.
Liebe Grüße
Kasia
Gabi (Sonntag, 07 April 2019 09:31)
Sie ist immer bei dir �
lonelyroadlover (Freitag, 24 August 2018 21:50)
Dankeschön, liebe Nadine!
Es bedeutet mir viel, dass dich der Text so berührt hat. Meine Oma war immer sowas wie meine beste Freundin, mein Mut und meine Inspiration. Ich vermisse sie hart und freue mich zugleich über alles, was sie mir an Träumen und Kraft hinterlassen hat.
Liebe Grüße,
Sarah
Nadine Heckner (Donnerstag, 23 August 2018 14:11)
Unfassbar gut geschrieben. Ich konnte nicht aufhören, bis der Text zu Ende war. :-)