Zwischen Himmel und Erde – als mein Opa fast 100 Jahre alt wurde.

6. Januar 2024

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Mein Opa unterwegs in den Alpen

„Du Schlunz“, sagte mein Opa immer, wenn ich irgendwo was im Haus gesägt und die Späne liegenlassen habe. Wenn wegen mir die Gartenpolster nass geworden waren. Oder wenn ich eine Viertelstunde zu spät zu unserer verabredeten Kaffeezeit ins Wohnzimmer kam.

 

Nicht eine Viertelstunde, sondern 26 Stunden zu spät bin ich, als kurz vor meinem Abflug aus den USA nach Deutschland mein Handy klingelt. Es ist mein Papa und es ist sieben Uhr morgens. Mein Papa ruft nie grundlos um sieben Uhr morgens an.

Mein Opa ist seit sechs Wochen immer wieder im Krankenhaus. In den letzten Tagen sah es immer schlechter aus. Als ich das klingelnde Handy in der einen Hand und den Koffer in der anderen Hand halte, weiß ich: Mein Opa ist gegangen.

 

Kurz darauf sitze ich im Flugzeug. Mein Freund und ich wollen zu Weihnachten nach Deutschland. Ich starre von oben auf die verschneiten Berge von Wyoming. Die Sonne scheint und in der Ferne liegt eine Wolkenschicht weit unter uns. Ich bin zwischen Himmel und Erde, genau da, wo mein Opa wahrscheinlich auch gerade ist. Auf dem Weg auf die andere Seite. Ganz leise höre ich ihn rufen: „Sarah, du Schlunz!“

Ein ganzes, großes Leben: 100 Jahre minus 50 Tage

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This is love: meine Oma und mein Opa als sie jung waren

Wenn mein Opa irgendwo sein Geburtsdatum eingetragen hat, haben die Leute gedacht, er hätte sich verschrieben oder wäre gaga. 1924.

15 Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, 17 Jahre vor der Geburt von Bob Dylan und 19 Jahre vor der Erfindung des Kugelschreibers.

Er war in Russland an der Front, wo sie sich bei minus 40 Grad nachts die Hosenbeine unten zubinden mussten, damit die Ratten im Schützengraben nicht die Beine hochgekrochen sind. Er hat erlebt, wie die Mauer gebaut wurde und wieder gefallen ist. Dresden als Schutthaufen in Ruinen, die Mondlandung, 9/11, Corona. Er hat die große Liebe gefunden, ist mit Familie und Zelt im Auto über die Alpen gefahren, hat ein Haus gebaut, sich in einer Gießerei vom Nobody zum Betriebsleiter hochgearbeitet und unfassbar schöne Aquarelle gemalt. Er hat meine Oma um zehn Jahre und einen seiner Söhne um vier Jahre überlebt. Wenn man ihm ein Kompliment gemacht hat, hat er weggeschaut und leise „Ach…“ gesagt.

 

Selten habe ich jemanden getroffen, der so viel geschafft und einfach gemacht hat, ohne groß darüber zu sprechen. Der so viel überlebt hat und trotzdem noch lachen konnte. Der mit 99 auf der Leiter an der Garage geturnt hat, um Blätter aus der Dachrinne zu fegen. Der mit der Heckenschere die Arbeit des Gärtners nachtrimmen musste. Der mehr wusste als alle scheiß Lexika in der Welt.

 

Von Sonnenblumen und Bilderrahmen

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Reisetagebücher, Wetterbücher, Tankbücher - mein Opa hat immer alles notiert

Wenn man in einer Fernbeziehung ist – so wie ich und mein Freund – kann man nicht immer überall auf der Welt gleichzeitig sein. Deshalb habe ich mich jedes Mal, bevor ich in die USA geflogen bin, ausführlich von meinem Opa verabschiedet. Man weiß ja nie. Nie sollte man einfach so aus der Tür gehen.

Dieses Mal sagte ich: „Bis Weihnachten, ich freu mich schon! Auf die Nussknacker und Holz-Pyramiden und das Raclette.“

„Ich weiß nicht, Sarah“, sagte mein Opa. Er sah müde aus und lächelte.

Später dachte ich: Er wusste es.

 

Wir beide wussten auch, dass er keinen großen Bock auf eine riesige Party zu seinem hundertsten Geburtstag im Januar hatte. „Der ganze Trubel…“, sagte er, zog sich seinen Arbeitskittel an und ging in die Garage, um was zu sägen. Die Sägespäne lange später ordentlich auf dem Kompost.

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Der Apfel reist nicht weit vom Stamm: mein Opa mit dem Camper unterwegs

Der Kompost, neben dem im Herbst jedes Jahr seine zwei Meter großen Sonnenblumen geblüht haben.

 

Wenn ich auf Reisen war, habe ich meinen Opa öfters angerufen. Mein Freund hat ihm außerdem einen digitalen Bilderrahmen geschenkt, auf den wir meinem Opa viele Jahre per App Bilder von unseren Trips geschickt haben. Das mochte er.

 

Einmal bin ich bei mir zu Hause in Deutschland im Wald spazieren gegangen, als mich eine fremde Frau ansprach: „Entschuldigung, aber sind Sie nicht Sarah und waren Sie nicht neulich in Ecuador?“

Hö? Kannte sie mich von Instagram, aus meinem Buch oder von meinem Blog?

„Ich bin die Fußpflegerin von Ihrem Großvater“, erklärte sie mir fröhlich. „Immer wenn ich bei ihm zu Hause bin, zeigt er mir auf dem Rahmen ganz stolz Ihre Fotos.“

Dankbarkeit für einen Menschen

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Mein Opa und ich mit einem der vielen Familienalben

Wenn jemand stirbt, ist man immer alles Mögliche: traurig, geschockt, leer. Viele bereuen, verzweifeln, fühlen Einsamkeit oder Wut. Als ich in der Woche vor Weihnachten die Urne meines Opas mit großen, gelben Sonnenblumen bemale, fühle ich vor allem eins: Dankbarkeit.

Dass wir uns vor meiner Abreise so schön verabschiedet hatten, sodass die fehlenden 26 Stunden am Ende egal waren. Dass er so lange in meinem Leben war, dass er mir auf seine ruhige Art so vieles gezeigt hat, dass er mir seine Bilder und geschriebenen Geschichten in den Familienalben hinterlassen hat.

 

Mein Freund und ich holen all die Weihnachtsdeko aus dem Erzgebirge raus, die mein Opa so geliebt und jedes Jahr aufgebaut hat. An Heiligabend dreht sich seine Holzpyramide im Kerzenschein auf meinem Wohnzimmertisch. Ich hatte mir gedacht, dass ich an Weihnachten bestimmt weinen würde.

 

Tu ich dann auch.

Aber nicht, weil ich traurig bin, sondern weil ich fühle, dass mein Opa und meine Oma zusammen mit uns in diesem Raum sind. Es ist keine Erscheinung, kein Engel und kein Geist – aber ein unendlicher Frieden, Glückseligkeit und das Wissen, dass sich die Spuren von Menschen und Erinnerungen im Herzen niemals wegwischen lassen werden.

Ich Schlunz.

 

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