Die Autobahn ist so leer, dass ich mitten auf der Straße anhalten und Tschaikowskis vierte Sinfonie aufführen könnte. Ich fahre von Bayern nach Sachsen. Ganz offensichtlich keine heiße Touristenroute. Mir fällt der melancholische Song „Frankfurt Oder“ von Bosse ein. Doch ich habe große Missionen im Osten: Ich möchte endlich die Basteibrücke im Elbsandsteingebirge von meiner Bucket List streichen, ich möchte meinen Brieffreund in Dresden besuchen, den ich in zehn Jahren erst einmal gesehen habe, und ich möchte einen Teil meiner Familie im Erzgebirge kennenlernen, den ich – außer als Baby – noch nie getroffen habe.
Nach einer siebenstündigen Fahrt von Berchtesgaden in die Sächsische Schweiz steige ich etwas bräsig aus dem Auto. Bin ich in Bayern beinahe mit Schlauchboot und Eiszapfen-Paddel weggeschwommen, ist hier auf einmal sengende Serengeti. An der Ferienwohnung habe ich etwas Angst, dass ich das Sächsisch meines Gastgebers genauso gut verstehe wie das Bayrisch meiner Vermieter im Süden – nämlich gar nicht. Das Wichtigste verstehe ich dann aber doch. „Wö-Loan“, brummelt der nette Herr freundlich und deutet auf einen Router in der Ecke. Erleichterung beim digitalen Nomaden. Dann geht es auch schon tierisch los: auf Klettersteigen in die Sandsteine, im Morgengrauen zur Basteibrücke, um Mitternacht zu Filmnächten und mit Aufregung zu einem Familientreffen der ganz besonderen Art.
Das bekannteste Bild vom Elbsandsteingebirge ist die berühmte Basteibrücke, die sich durch die hohen Felstürme zieht wie die magische Requisite in einem Märchenfilm. Ich dagegen mache meine erste Entdeckungstour in den etwas weiter östlich gelegenen und unbekannteren Schrammsteinen. Es ist brüllend heiß, als ich an der Elbe parke, die dezent über die Ufer getreten ist. War in den letzten Tagen wohl nicht immer so trocken wie heute. Dann kämpfe ich mich zu Fuß durch ein Waldstück nach oben. Zum Glück habe ich in Bayern so irren Scheiß gemacht, wie 1.000 Höhenmeter zu einer Eishöhle zu wandern – da ist das hier fast ein Spaziergang. Denke ich. In Erwartung eines Wanderwegs, der in Serpentinen zum Gipfel führt, stiefel ich munter weiter.
Bis ich plötzlich vor einer eisernen Leiter stehe. Hä? Haben die die bei Bauarbeiten vergessen? Ich klettere hinauf, um einen Überblick zu gewinnen. Vor mir Treppenstufen aus Sandstein am Abgrund, Gitter, ein Spalt, in dem Reiner Calmund zu besten Zeiten anstandslos steckengeblieben wäre und mehr Leitern. Ich realisiere, dass mein seniorengerechter Wanderweg eine Illusion war. Hier wird geklettert! Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind, was zusammen mit der Hitze dazu führt, dass meine Hände schwitzig werden und ich mich kopfüber von den Leitern in den Abgrund dröhnen sehe. Doch als hinter mir auf einmal ein echter Senior auftaucht, muss ich den Schein waren und steige mutig immer höher. Bis ich ganz oben bin, wo sich ein sensationeller Blick über die spitzen Felsformationen und grünen Wälder ausbreitet. Also, ganz heißer Tipp: Schrammsteine! Nervenkitzel, Kletterspaß und grandiose Aussicht – für lau.
Nach dieser Aktion könnte man ausschlafen und dem Wort „Urlaub“ gerecht werden. Aber Urlaub ist das hier schon lange nicht mehr. Was ich hier mache, ist mal wieder einer meiner bekloppten Roadtrips mit dem Motto „tot aber glücklich“. Also rasselt um halb vier morgens der Wecker. Wer entspannt Sonnenaufgänge sehen möchte, sollte das nicht unbedingt im Juni machen, wenn das Scheißding mitten in der Nacht aufgeht. Jetzt ist es aber halt Juni und ich bin hier. Ich tuckere von meiner Wö-Loan-Butze mit einem halb offenen Auge zur Basteibrücke. Dort habe ich am Vortag schon die Ferdinantenaussicht als optimalen Spot für den Sonnenaufgang ausgespäht. Außer einer Familie, die um zwei Uhr nachts (!) aus Cottbus hergekommen ist, ist noch keiner da. Ich ergattere einen der vorderen Plätze auf der kleinen Plattform. Und dann passiert erst mal nichts. Ich habe mein Handy vergessen und versuche, die Uhrzeit auf meiner Kamera nachzuschauen. 19:30 Uhr. Na toll, da ist noch irgendeine bescheuerte USA-Zeit eingestellt. Zum Zurückrechnen ist es meinem Gehirn noch zu früh. Also warte ich einfach. Irgendwann geht diese Sonne schon auf.
Und genau das tut sie eine Viertelstunde später auch. Ganz langsam schieben sich die Strahlen über den Horizont und bemalen die Sandstein-Monolithen mit der Basteibrücke von oben nach unten mit rosa-orangefarbenen Farben. Alpenglühen in Sachsen. Wunderschön. Weiße Birken leuchten unnatürlich im goldenen Licht und ganz kurz denke ich, dass gleich Jim Knopf mit seiner Lokomotive über die Brücke schnaubt. Bucket List, here we go!
Nach zwei Tagen fahre ich weiter nach Dresden, das nur etwa eine Stunde von der Sächsischen Schweiz entfernt liegt. Abgesehen davon, dass es eine historisch unheimlich spannende uns schöne Stadt ist, lebt dort mein Brieffreund, mit dem ich seit fast zehn Jahren schreibe. Aufgrund der großen Distanz zwischen uns (ich ganz im Westen und er ganz im Osten), haben wir uns bisher nur einmal gesehen. Und das ist auch schon wieder fünf Jahre her. Da wir beide Musik- und Filmfreaks sind, hat er gleich mal Karten besorgt. Für die riesige Open-Air Leinwand bei den Filmnächten am Elbufer. Denn da läuft heute „Bohemian Rhapsody“ – der Streifen über Queen. Um 22 Uhr sitzen wir mit einem schicken Kaltgetränk auf den Tribünen am Fluss. Die Skyline von Dresden mit der Frauenkirche ist von gelblichem Licht angestrahlt und am Himmel stehen die letzten, rostroten Reste des Sonnenuntergangs. Es ist immer noch warm und ich bin aufgeregt und zugleich entspannt. Dann flackert Freddie Mercurys Geschichte über die Leinwand. Großartige Musik gemischt mit großen Emotionen. Ich möchte aufspringen und „GALILEO FIGARO!“ rufen. Um halb eins laufen wir durch das nächtliche Dresden nach Hause und ich fühle mich im Großstadtsommer angekommen.
In den nächsten Tagen klappern wir ein paar klassische Sehenswürdigkeiten wie den Zwinger und die Semperoper ab. Allerdings ist ganz Dresden aktuell eine riesige Baustelle. Mein Brieffreund zählt an einer Stelle fünfzehn Baukräne auf einmal. „Als Texterin für die Tourismusbranche kann ich jeden Ort schönreden“, töne ich.
„Dann sag mal was über Dresden!“, erwidert mein Kumpel und grinst.
„Ähm“, sage ich. „Fahren Sie nach Dresden… der alte Charme… retro… Honecker und so!“
Wir gröhlen und der Retro-Honecker begleitet uns noch die restlichen Tage.
An einem Abend genießen wir ein privates Bier-Tasting in den Kunsthofpassagen, an deren Fassaden Musikinstrumente, goldene Blätter und Tierfiguren angebracht sind. An einem anderen Tag gehen wir Erdbeeren pflücken und machen die englischen Gärten von Schloss Pillnitz unsicher. Mein Brieffreund ist ein eher ruhiger Typ, während ich die absolute Labertasche bin. Aber irgendwie passt es. Es gibt Menschen, mit denen man sich über mehr als Netflix und Pommes unterhalten kann. Und genau so ist das bei uns. Ein paar Mal machen wir etliche Kilometer entlang der Elbe bei Nacht und reden über Gott und den Tod. Dabei sehen wir Fledermäuse und Igel. Am Abend vor meiner Abreise machen wir es uns mit Vanilleeis und unseren hart erarbeiteten Erdbeeren auf dem Balkon gemütlich, während es gewittert und nach warmem Regen riecht. Das ist das Leben – und das Leben ist jetzt.
Meine letzte Station im Osten ist das Erzgebirge. Denn dort lebt der jüngere Bruder meines Opas mit seinen kaum bemerkenswerten 88 Jahren. Über solches Jungvolk kann mein Opa, der in diesem Jahr 96 geworden ist, nur müde lächeln. Allerdings ist es sowohl für meinen Opa, als auch seinen Bruder inzwischen beschwerlich geworden, die lange Ost-West-Strecke zu überwinden, weshalb sich die beiden Familienteile sehr lange schon nicht mehr gesehen haben. Dazu kommt die schwierige Zeit während der Teilung Deutschlands und der Mauer, als die Brüder jahrzehntelang getrennt waren.
Ein einziges Mal habe ich ihn vorher schon gesehen – aber da war ich noch ein Baby und das einzige Artefakt ist ein Familienfoto.
Ich parke vor dem Haus, in dem mein Opa vor 96 Jahren geboren wurde und gehe rein. Bruder und Frau stehen fröhlich in der Tür. Beide haben schon diverse körperliche Leiden hinter sich, sind aber geistig immer noch blitzgescheit.
Kurz darauf kommen noch Tochter und Ehemann dazu und wir sitzen auf der Terrasse und mümmeln Kuchen. Es ist seltsam, wie man keinerlei Erinnerungen an jemanden haben kann, aber sich alles gleich so vertraut anfühlt. Wir lachen viel, erzählen uns die letzten Dekaden, blättern in einem Album und sind am Ende einfach unglaublich froh, dass wir uns endlich wiedergesehen haben. Es wird nach Mitternacht an diesem Tag und irgendwie ist noch immer nicht alles gesagt. Am nächsten Morgen laufe mit der Kamera durch den Ort und schieße Fotos für meinen Opa.
Eigentlich wäre ich danach nach Hause gefahren. Doch auf einmal packt mich eine wilde Sehnsucht. Nach Meer. Was dann passiert ist, erfahrt ihr bald hier. Teil 1 meines Roadtrips durch Deutschland findet ihr unter Das Schloss in den Wolken und Tibet in den Alpen – Garmisch-Partenkirchen. Teil 2 im Bericht Von Märchenwäldern, Eishöhlen und einem Haus im See – Berchtesgaden.