Eine Herzensgeschichte: Nutten, Ratten und fünf Kilometer nachts zu Fuß durch Paris.

24. Dezember 2018

Paris bei Nacht, Facebook
Nachts zu Fuß durch Paris für eine Überraschung...

Es ist viertel vor drei in der Nacht als mein Handy-Alarm losgeht. Es ist mein ganz normaler Weckton, doch es fühlt sich an, als würde jemand „LAST CHRISTMAS!“ in mein Ohr schreien. Ich kratze mir eine Ladung Sand aus den brennenden Augen und schalte die Nachttischlampe im Airbnb ein, die mich kurz erblinden lässt. Ich bin in Paris. Allein. Noch. Um 7 Uhr landet mein Vielleicht-bald-Freund aus den USA am Charles de Gaulle Flughafen und ich werde ihn dort überraschen. Ich habe ein beklopptes Plakat gebastelt und hatte den simplen Plan, gegen 5 Uhr mit der Metro zum Hauptbahnhof zu fahren und von dort mit dem Zug zum Flughafen.

 

„Meine Fresse, fünf Uhr!“, denke ich noch zaudernd am Abend zuvor. Das ist mitten in der Nacht! Dann checke ich die Metro-Fahrpläne und sehe, dass die erste U-Bahn erst um 6 Uhr zum Hauptbahnhof fährt. Viel zu spät, um dann noch den Zug zu nehmen und pünktlich am Flughaufen zu sein. Ein Taxi kostet 50 Euro. Viel zu teuer. Ich schicke meine Gehirnzellen ins Trafohäuschen. Dann knallen ein paar Sicherungen durch und heraus kommt ein verrückter und filmreifer Plan.

5,3 Kilometer – ist doch kein Ding!

Paristrip, Backpacking Paris, Airbnb
Mir geht's gut - ich bin TOTAL wach!

Statt mit einem französischen Wein zu versumpfen und die Überraschung in die Tonne zu treten, befrage ich die Google-Maps-Medusa. Sie verrät mir, dass es zu Fuß 5,3 Kilometer und etwas über eine Stunde vom Airbnb zum Hauptbahnhof sind, wo ich dann um halb 6 direkt einen Zug zum Flughafen nehmen kann. Ganz ohne lame U-Bahn.

 

Ich stelle meinen Wecker auf 4 Uhr. Dann sehe ich im Live-Flug-Tracker, dass mein Vielleicht-bald-Freund eine halbe Stunde zu früh landen wird und ich deshalb einen früheren Zug nehmen muss. Nach weiteren Recherchen stelle ich den Wecker schließlich auf viertel vor 3. Wenn schon irre, dann auch richtig! Du lebst nur einmal – also liebe, lache und folge deinem Herzen. Auch durch die dunkle Nacht von Paris.

 

Als ich am Morgen im Bad in den Spiegel sehe, halluziniere ich kurz und glaube, dass ich mir selbst einen Vogel gezeigt habe. Dann packe ich mein Plakat, ein klebriges Stück Stuten, eine Wasserflasche, mein Gandy, meinen Mantel und gehe los. Irgendwo läutet eine Kirchenglocke. Es ist Punkt drei Uhr.

Paris bei Nacht: komplett tot

Sacre Coer, Paris, Montmartre, Parisreise, Tipps
Paris bei Tag - irgendwie bunter und schöner

Die Straßen sind in schmutzig-gelbes Licht getaucht. Alle Farben des Tages sind verschwunden. Nachts sind alle Katzen grau. Es ist totenstill. Kein Auto fährt. Und es ist ungeheuer warm für eine Nacht im Dezember. Ich starre auf die Route, die maps.me für mich berechnet hat. Ich habe keine Ahnung, durch welche Viertel und Straßen ich laufen werde und es ist mir auch egal.

An einer Straßenecke stehen zwei Typen und unterhalten sich. Ich werde kurz unruhig und gehe schneller. Aber dann finde ich meine angstlose Reise-Routine wieder und spaziere an der menschenleeren Hauptstraße entlang, wo neonweiße Weihnachtsdeko stumm von den kahlen Bäumen baumelt. Obwohl ich genug Zeit habe, gehe ich zügig. Ich schiebe Panik, dass ich den Zug vielleicht doch nicht bekomme und ich die Überraschung verkacke. Nach einem Kilometer habe ich brennenden Durst und wühle ziellos in meinem Rucksack nach der Survival-Flasche. Ich beschließe, im Gehen zu trinken, um Zeit zu sparen und schütte mir die kalte Plörre geradewegs in den Mantel. Dann fluche ich und verschlucke mich deshalb laut. Das ist scheinbar meine Art, „Hallooo, ich laufe hier!" für potenzielle Mörder zu rufen.

Französische Gespräche mit Ratte

Eiffelturm Paris, Paris im Winter, Weihnachten in Paris
Sieht nicht sehr römisch aus!

Allerdings ist niemand außer mir unterwegs. Und ich meine: niemand! Es ist verrückt. Paris. Eine der größten Städte Europas. 3:17 Uhr an einem Donnerstagmorgen und keine Sau ist wach! Ich höre Vögel zwitschern und Blätter rauschen. Vielleicht auch bloß Müll, der in der Gegend rumfliegt. Denn die Gegend ist gerade alles andere als pittoresk. An einer roten Ampel bleibe ich sinnlos stehen und reiße mir den Schal vom Hals. Wie kann es nur so heiß sein? Ich bin froh, dass ich nicht noch mehr Klamotten angezogen habe. Dann wäre ich jetzt kurz davor, sie einfach wegzuschmeißen.

 

Irgendwann sehe ich einen Mann, der einige Meter vor mir die Straße hinabgeht. Als er sich umdreht und mich sieht, sagt er etwas Französisches, das ganz nett klingt. Leider verstehe ich nix, weil ich in der Schule Latein gewählt habe und der Kerl zufällig nicht Julius Caesar ist. Ich grinse dämlich und animiere ihn dadurch, noch mehr zu reden. Irgendwann gibt er auf und geht einfach weiter. Ich hatte jetzt irgendwie mehr Angst vor Französisch als vor dem Kerl.

 

Auf einmal rennt eine Katze über die Kreuzung. „Ooooh!“, sage ich spontan bewundernd in die Stille, bevor ich registriere, dass es eine ziemlich große Ratte ist. Danach führt mich die Route unter eine vollgesprayte Brücke, wo es herrlich nach Pisse riecht.

Wüstenklima nachts in Paris

Gare du Nord Paris, Flughafentransfer Charles de Gaulle
Der Gare du Nord mitten in der Nacht

Nach weiteren drei Kilometern habe ich mir auch den Mantel vom Leib gerissen und mein Rucksack wegen der ganzen zerknüllten Klamotten darin so aus, als wäre ich auf Polarexpedition. Ich laufe immer noch extrem schnell und schwitze wie ein Biber. Weil ich so schnell laufe. Und weil ich aufgeregt bin. Ich habe noch nie jemanden auf so eine Art überrascht. Und ich habe noch nie vorher so eine bekloppte Story erfunden, um jemanden zu überraschen.

 

Ich habe meinem Vielleicht-bald-Freund erzählt, dass ich ihn leider nicht am Flughafen begrüßen kann, weil die Metro noch nicht fährt (hey, das stimmt ja auch!), aber ihn der Vermieter von unserem Airbnb netterweise auf dem Rückweg von seiner Nachtschicht mit dem Auto abholen kann. Dazu habe ich erfunden, dass der Vermieter zufällig nur Deutsch und Französisch spricht, aber leider überhaupt kein Englisch, sodass mein amerikanischer Vielleicht-bald-Freund ihm bloß keine Fragen stellen kann. Und dass ich deshalb die Kommunikation regeln werde und er sich um nichts kümmern braucht. Schließlich habe ich ihm noch das Bild des Ex-Freunds von meinem besten Freund geschickt, dessen deutscher Name Matthias ist. Mit dem Kommentar: „Das ist unser Vermieter Mathieu, der holt dich ab!“

Lächeln und Grinsen beim Drogenboss

Bahnhof Paris Gare du Nord
Vier Uhr - klasse!

Ich grinse über die Genialität dieses Plans während am Straßenrand die Silhouetten von drei leicht bekleideten Frauen auftauchen. Immer noch ist kein Auto zu sehen. Die geschlossenen Läden, Cafés und Büros starren mich mit dunklen Augen an. Auf einem Zebrastreifen kommt mir ein Typ mit goldener Halskette und glühendem Joint entgegen. Ich grüße freundlich und gehe unbeirrt weiter. Das ist meist das ganze Geheimnis, wenn ich alleine reise und zu seltsamen Zeiten an seltsamen Orten unterwegs bin: keine Panik, sondern lächeln und winken. Funktioniert seit zehn Reise-Jahren und nach Trips in Städte wie New York, Chicago, Marseille, Tokio und Neapel immer noch ziemlich gut und ohne einen einzigen Zwischenfall.

 

Langsam nähere ich mich dem Hauptbahnhof. Natürlich einige Jahrhunderte zu früh. Auf einmal schießt ein Fahrrad an mir vorbei. Keine große Sache, denke ich. Allerdings taucht der Typ nach einigen Minuten erneut auf, um zu verschwinden und wieder aufzutauchen. Am liebsten wäre mir fast, er würde mir einfach (vergeblich) Marihuana anbieten und verschwinden. Ich habe keine Angst, finde es aber auch nicht wirklich lustig.

Endlich am Bahnhof mit Horrorvisionen und Oscar Wilde

Gare du Nord Paris, Thalys, Köln - Paris
Am Gare du Nord (hier allerdings am Nachmittag davor)

Schließlich betrete ich die hell erleuchtete Bahnhofshalle. Es ist kurz nach vier. Während sich hier tagsüber die Menschenmassen über den Haufen rennen, fährt jetzt nur eine einsame Kehrmaschine die leeren Gleise entlang. Geisterstadt Paris. Unglaublich.

 

Ich setze mich auf einen unbequemen Holzblock und werfe meinen letzten Pullover von mir. Gegen Paris im Dezember war die Mojave-Wüste ein Eisloch. Meine Augen brennen, mein Puls jagt und ich versuche kurz, mich zu beruhigen. Plötzlich kommt der Radfahrer durch die Halle. Das Gummi der Reifen quietscht auf dem blanken Boden. Ich schaue angestrengt weg und versuche, nicht an morbide Filme zu denken. Dann hole ich in aller Ruhe meinen Stuten aus dem Rucksack und fasse in eine glitschige Rosine. Eine halbe Minute später kleben meine Hände komplett. Ich habe außerdem überhaupt keinen Hunger auf den Scheiß und bin so geschwitzt, dass ich anfange, zu frieren. Um mich abzulenken, schicke ich meiner besten Freundin Sprachnachrichten und mache ein bescheuertes Video von mir. Für die Erinnerung.

 

Nachdem ich 40 Minuten mit Rumsitzen verbrannt habe, fährt endlich die erste Regionalbahn zum Flughafen. Fast 50 Minuten dauert die Fahrt und kostet 10 Euro pro Strecke. Dafür müsst ihr ins Untergeschoss des Hauptbahnhofs Gare du Nord hinabsteigen und die RER B nehmen. Achtet unbedingt auf die richtige Richtung – Nord oder Süd – damit ihr nicht ins Nirwana fahrt. Es ist aber alles sehr gut ausgeschildert. Auch für komische Menschen, die kein Wort Französisch sprechen.

 

Am Gleis sehe ich dann aber plötzlich, dass der erste Zug erst in einer Stunde fahren soll. Was ist das denn für eine Scheiße? Ein Typ, der ein bisschen aussieht wie eine Mischung aus Oscar Wilde und Hipster regt sich mit mir gemeinsam darüber auf. Er muss einen Flug bekommen. Ich muss meine Überraschung bekommen. Ich erkenne auf einen Blick, dass mein Problem das wichtigere ist. Es kommen weitere Reisegäste, diskutieren und deuten auf die Anzeigetafel. Ich grinse wieder einmal grenzdebil und nicke, denn außer dem Oscar-Wilde-Hipster spricht niemand Englisch. Die Aufregung ist groß und die Stimmung gereizt.

Hilfe vom Putzmann

RER B Charles de Gaulle Flughafen Paris
Bräsig in der Regionalbahn

Auf einmal taucht ein Putzmann auf und winkt uns. Er erklärt irgendetwas und plötzlich rennen alle Richtung Rolltreppe. Oscar Wilde macht mir verständlich, dass der Zug heute woanders abfährt. Ich erwidere ein optimistisches „Äääähm“ und laufe blöde hinterher, während ich das Gefühl habe, dass meine Hände immer noch entsetzlich kleben wegen des beschissenen Stutens.

 

Tatsächlich steht die gewünschte Bahn auf einem anderen Gleis. Ich werfe mich auf einen freien Sitz im Waggon, setze meine Kopfhörer auf und beschalle mich mit Liedern, die mein Vielleicht-bald-Freund und ich gemeinsam auf unseren Roadtrips in den USA gehört haben. Am liebsten würde ich mich vor Nervosität kopfüber an die silbernen Haltegriffe hängen und schreien.

 

50 Minuten lang tuckert der Zug durch die Nacht. Bis er am Terminal 1 hält, an dem die internationalen Flüge ankommen. Der Bahnhof am Charles de Gaulle Airport besticht durch monumentalen 70er-Jahre-Beton. Ich hetze in die Eingangshalle und finde nur Abflüge aber keine Ankünfte. Dann frage ich eine Französin, die natürlich nichts versteht. Aber mit Händen und Füßen mache ich ihr klar, dass ich die eintreffenden Flüge suche. Die Aktion endet erfolgreich und nach zehn Minuten stehe ich vor den Gates in der weißen Ankunftshalle und glotze alle zwei Sekunden auf den Monitor, was die Maschine aus Washington DC macht. Fliegen natürlich. Was sonst.

All eyes on: ich und mein Schild

Charles de Gaulle Flughafen Paris
Surprise - wir haben es geschafft!

Vorher landen allerdings noch drei Flugzeuge aus Asien. Mein Körper ruft nach Schlaf aber mein Geist tanzt Polka. Ich hole mein selbstgebasteltes Pappschild heraus, auf dem liebevoll-ironischer Blödsinn steht und stelle mich damit mitten zwischen zwei Anzugträger, die die wesentlich kleineren und unspektakuläreren Schilder ihrer Hotels und Taxidienste hochhalten. Als die ersten Menschen aus dem Gate purzeln und mich anstarren, habe ich das erste Mal das leise Gefühl, dass ich etwas Verrücktes tue. Eine Stewardess schaut auf, sieht das Schild in meiner Hand, lacht herzlich und geht weiter. Ähnliches passiert noch weitere Male. Ich grinse. 

 

Nach unendlichen Minuten taucht endlich mein Vielleicht-bald-Freund auf. Der mir später verrät, dass er versucht hat, den bärtigen und voll-tätowierten aber inexistenten Mathieu zu finden. Dann allerdings sieht er stattdessen mich. Seine Augen leuchten, ich lasse fast das Plakat fallen und endlich haben wir uns wieder. Noch während ich überlege, ob wir uns jetzt umarmen oder waaaas, küsste er mich einfach.

Das war's dann mit dem Vielleicht-bald-Freund.

Ist jetzt Freund.

In der Stadt der Liebe.

Hach, Leben.

Kommentare: 0
Facebook Lonelyroadlover
Pinterest Lonelyroadlover