Prag. Da war ich mal vor hundert Jahren. Als die Hölle zugefroren war und ich zur Schule ging. Auf Abschlussfahrt. Ich erinnere mich an exakt drei Dinge: Die Rolltreppen der U-Bahn waren wahnsinnig lang und schnell. Es gab einen Haufen alter Häuser, die mich mit 18 nicht die Bohne interessiert haben. Absinth tötet.
Mein Freund und ich sitzen sechs Stunden im Zug von Budapest nach Prag. Die Zugabteile sind in kleine Kabinen geteilt. Am Fenster sitzt ein Ehepaar, das Eiswürfel gegessen hat und die ganze Fahrt nicht miteinander spricht. Gegenüber ein etwa 16-jähriges Mädchen mit seiner Mutter, deren Arm mit verblassten Sternchen-Tattoos vollgekleistert ist. Da ist es beinahe cooler, wenn mein Vaddah Instagram hat.
Die goldene Nachmittagssonne scheint schräg am Vorhang vorbei in mein Gesicht. Mein Freund hat seine Arme um mich gelegt, während er liest, und ich schließe für eine Weile die Augen.
Wir sind auf Zugreise durch Osteuropa, hingen schon kopfüber am Wiener Abendhimmel und sind durch die nebligen Gassen Budapests gegeistert.
Der zweite Teil unseres Trips führt uns nach Prag und Berlin. Zu astronomischen Uhren, tanzenden Häusern, in gläserne Kuppeln und zu der Mauer, die Deutschland einst in zwei Staaten teilte. Als Deutsche und Amerikaner noch nicht in ungarischen Zügen rumgeknutscht und sternchentätowierte Mütter verwirrt haben.
Es ist pottdunkel, als wir in Prag aus dem Hauptbahnhof fallen. Mein Koffer lässt sich widerstrebend über das Kopfsteinpflaster schleifen. Dann biege ich um die Ecke und sehe den fahlen Vollmond über der Gasse mit den historischen, weißen Fassaden. Ein blattloser Baum lässt seine dürren Äste wie ein klangloses Windspiel in die Szene wehen. Schatten zeichnen sich auf dem Boden und hinter den Straßenlaternen ab.
Reisen ist längst nicht nur das Abbimseln von Sehenswürdigkeiten, die man auf TripAdvisor geklaut hat. Es ist das Vermögen, Stimmungen, Lichter, Farben und einzigartige Momente zu sehen – nicht nur mit den Augen – und die Zeit zu finden, sie zuzulassen. Hinter uns auf der gegenüberliegenden Seite der Moldau liegt die Prager Burg, das größte geschlossene Burgareal der Welt. Doch nichts ist in diesem Augenblick fesselnder als der runde und perfekte Mond über der stillen und weihnachtlichen Straße mitten in der majestätischen Altstadt Prags.
Am Abend sitzen wir allein in einem kleinen, cremefarbenen Café aus Palettentischen mit Tannenzweigen und Windlichtern. An der Wand eine schwarze Schiefertafel. Beschrieben mit den „Vorschriften des Hauses“: Das Leben ist kurz. Brich die Regeln. Verzeihe schnell. Küsse langsam. Liebe wahrhaftig. Lache hemmungslos. Und bedauere nichts.
Ich sehe meinen Freund an. Er sieht mich an. „Alles richtig gemacht“, sagt er.
„Alles richtig gemacht“ sage ich.
„Prag ist wie ein Filmriss“, sage ich, während ich die hellblauen, sonnengelben und roséfarbenen Fassaden der wunderschönen Häuser am Altstädter Ring betrachte. Den Mund so weit offen, dass es reinschneit. „Ich erinnere mich an einen Scheißdreck aber es war offenbar richtig gut.“
Ich möchte meinem Freund die Astronomische Uhr zeigen, die aus dem Jahr 1410 stammt und nationales Kulturdenkmal ist. Erst einmal führe ich ihn zur vollkommen falschen Seite des Platzes.
„Ich verzeihe dir“, sagt er gütlich, als ich eingestehen muss, dass ich nicht die blasseste Ahnung habe, wo die faszinierende Uhr ist, die nicht nur die normale Zeit, sondern auch Dämmerungsphasen, Sternzeit, Mondstand, böhmische Stunden und Tierkreiszeichen anzeigt. „Du warst ja damals auf der Abschlussfahrt nur betrunken.“
„Nicht um 10 Uhr morgens, als wir die Stadtführung hatten!“, protestiere ich. „Da haben wir uns über die Gruppenleiterin und den bekloppten, roten Schirm beömmelt, den sie die ganze Zeit hochgehalten hat.“
Nach einer Weile bleiben wir in einer Menschenansammlung stecken. Ich blicke auf. Und da ist die Uhr. Die auf einmal elf schlägt, woraufhin ein Skelett anfängt, am Turm eine Glocke zu läuten. „Äh ja. Das ist das berühmte Glockenspiel zur vollen Stunde“, philosophiere ich in den Dunst. „Genau das wollte ich dir zeigen.“ 200 Chinesen machen ein siebenstündiges Video mit ihren Handys und mein Freund ist beeindruckt.
Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit – das hat schon in der Schule gut geklappt. In meiner Abi-Zeitung stand in meinem Steckbrief „Kann aus Wasser DNA herstellen“. Die Interpretation dazu überlasse ich jetzt jedem selbst.
Wir laufen über die Karlsbrücke mit ihren steinernen Bögen. „Das ist die Karlsbrücke von Prag. Nicht die von Budapest“, erkläre ich, als gerade mehrere Möwen malerisch vom Ufer der Moldau aufsteigen und über der Prager Burg kreisen.
„Halt die Klappe“, sagt mein Freund, der in Budapest ganz enttäuscht gewesen war, dass die Karlsbrücke ja „ganz anders“ aussah als auf den Bildern.
Mitten auf der Brücke spielt eine tschechische Kapelle. Eine Gruppe aus fünf Männern, die bei arktischen Temperaturen in dicke, schwarze Jacken und klobige Winterschuhe gepresst ist aber offenbar Spaß hat. Mit Kontrabass, Ukulele und Klarinette. Wir bleiben mehrere Minuten stehen und erfreuen uns an der sehr tanzbaren Musik, während meine Nase langsam abfriert, abbricht und in kleinen Scherben von der Brücke ins Wasser geweht wird. Mein Freund kauft eine CD. Er sammelt Musik von Einheimischen aus aller Welt. Auf diese Weise haben wir inzwischen eine faszinierende Playlist für unsere Roadtrips zusammen.
Am Veitsdom auf der anderen Seite der Moldau ist eine Flughafensicherheitskontrolle. Mein Freund hat zweieinhalb Zentner Münzen in seinen Jackentaschen, die er alle auspacken muss. Deutsche Euros, ungarische Forints, tschechische Kronen und ein paar Dollar. „Du bist ein Chaos!“, sage ich, bevor es laut piept, als ich durch den Detektor latsche. Der Security-Mensch, der etwa zwei Meter groß ist und nachts für die russische Mafia arbeitet, sieht mich streng an und leuchtet mich eine ganze Weile mit seinem Handscanner ab. Am Ende ist es nur ein Metallknopf an meiner Jacke.
„Komm, du Chaos!“, sagt mein Freund und zieht mich Richtung Dom.
Die Kathedrale ist beeindruckend aber sowohl Notre Dame in Paris als auch die Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz haben mich mehr weggepustet.
Von der Prager Burg aus laufen wir wieder hinunter zum Fluss und bis zum Tanzenden Haus. Meine Füße sind so durch wie Käpt’n Iglos Fischstäbchen bei Aldi in der Tiefkühltheke. Es ist eigentlich nur ein Bürogebäude, doch es sieht durch die verzogene Glasfassade aus wie eine Flamencotänzerin im Wind. Tatsächlich ist das Gebäude inspiriert von einem berühmten Tanz- und Filmpaar. Der steinerne Turm steht für Fred Astaire und der gläserne Turm für seine Partnerin Ginger Rogers.
Als es dunkel wird, entern wir den gemütlichen Weihnachtsmarkt am Altstädter Ring, an dem sich zahlreiche bunte Lichter in den hohen Fenstern der märchenhaften Fassaden spiegeln.
„Das ist der Reichstag!“, rufe ich aufgeregt und fuchtel mit beiden Armen vor dem hell erleuchteten Gebäude herum. „Das ist wie das Kapitol in Washington.“
„Nur das da kein Vollidiot drinsitzt wie derzeit im Kapitol in Washington“, merkt mein Freund an.
Wir sind auf der letzten Etappe unseres Trips. Berlin. Es ist dunkel. Wir können zu Fuß vom Hotel zum Brandenburger Tor laufen. Nein, wir residieren nicht im Adlon. Wir laufen einfach gern wie blöde. Vor dem Brandenburger Tor steht ein Weihnachtsbaum. Irgendwie habe ein Talent dazu, immer nach Berlin zu fahren, wenn es schweinemäßig kalt ist.
„Die letzten beiden Male war ich so irre, die ganze Strecke vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule zu Fuß zu laufen!“, erkläre ich. „Die ganze Straße des 17. Juni runter!“
„Was war am 17. Juni?“, fragt mein Freund.
„Ehm. Ein Aufstand“, sage ich. „Prager Frühling. Nee warte, das kommt irgendwie nicht hin. Wollten wir nicht einen Burger essen? Ich hab plötzlich so Hunger!“
Am nächsten Tag pisst es zum Glück so dermaßen, dass wir am Checkpoint Charlie in die BlackBox Kalter Krieg gehen. Ein etwas unscheinbares Museum in einem klein und improvisiert wirkenden Klotz, das multimedial und extrem spannend die Zeit rund um den Mauerbau bis nach dem Mauerfall darstellt. „Ach schau mal“, sage ich und deute auf eine Tafel. „Der 17. Juni. Volksaufstand in der DDR. Hab ich ja gesagt!“
Zum Glück ist mein Freund zu fasziniert von Kennedys Rede, die auf einem großen Plakat erläutert wird, um meinem Nonsens größere Beachtung zu schicken.
„Es ist so lustig, wie Kennedy versucht, auf deutsch zu sagen, dass er ein Berliner ist“, erkläre ich.
„Warum?“, fragt mein Freund und tritt nahe an die deutschen Worte heran: „Everyone in the USA knows Isch bin ein Bearleener!“ sagt er ernst. Ich gröhle innerlich. Er klingt genau wie Kennedy.
Die Ausstellung ist übrigens auf Deutsch und Englisch, was echt schön ist, wenn man mit internationaler Begleitung unterwegs ist.
Am Abend haben wir eine Reservierung für die Reichstagskuppel.
„Hast du auch deine Pfennige ausgepackt?“, frage ich bei der Sicherheitskontrolle. Dieses Mal piept nichts. Man, was sind wir vorbereitet! Deshalb haben wir auch extra vor Wochen den Time-Slot zum Sonnenuntergang ausgewählt.
Oben in der gläsernen Kuppel triefen die Regentropfen an der Fassade runter. Es ist kalt, weil die Kuppel unten und oben offen ist. Dafür gibt es einen schönen Rundgang, bei dem man sich über die bewegte Vergangenheit des Reichtstags inklusive Brand, Christo und Wiedervereinigung informieren kann.
Am letztens Tag scheint tatsächlich die Sonne. Ich schiebe ein Mammutprogramm, weil ich Berlin liebe und es noch so viel gibt, was ich meinem Freund in der deutschen Hauptstadt zeigen will. Wir fahren zur Gedächtniskirche mit ihrem Ruinen-Turm und den beeindruckenden Einschusslöchern. Dann zur Siegessäule. Von dort aus laufen wir ernsthaft die gesamte Straße des 17. Juni hoch Richtung Brandenburger Tor bis zum Holocaust Mahnmal.
Das Mahnmal ist kein Wilhelm auf einem Pferd mit Moos auf dem Rücken und Taubenscheiße auf dem Kopf. Es ist ein Denkmal zum Betreten. Zum Fühlen. Zum Erleben. 2711 Betonsteelen verteilen sich auf 19.000 Quadratmetern. Vorne an der Straße sind sie nicht höher als bis zum Knöchel. Im Herzen der Stätte dann auf einmal überragend groß. Den blauen Himmel verdeckend. Eng. Schwer. Es ist, als würden sie das Herz zusammenpressen. Weil es vor einigen Stunden geregnet hat, rinnen die trocknenden Tropfen des Wassers noch langsam und dunkel den Stein hinab. Als würden sie weinen um die sinnlos ermordeten Juden in ganz Europa während des Zweiten Weltkrieges.
Nach einem Abstecher nach Kreuzberg, wo uns von zerschlissenen Fassaden ein bunter Einstein mit blauen Haaren angegrinst hat und einem Spaziergang entlang der East Side Gallery, frieren wir uns abends im Gewand eines Staatsakts den Hintern ab.
„Du musst unbedingt einmal in deinem Leben eine Oper gesehen haben“, hat mein Freund letzten Sommer in Albuquerque gesagt, als wir über seinen ersten Opernbesuch sprachen. Ich bin immer offen und neugierig. Also hat er mir Karten für die Berliner Staatsoper unter den Linden zu Weihnachten geschenkt. In Anzug und Kleid hasten wir bei unmenschlichen Temperaturen durch die eisige Nacht. Mein Freund findet es „angenehm“ aber er ist ja auch ein bekloppter Cowboy aus Wyoming, wo es im Winter minus 20 Grad wird.
Bestimmt fallen wir voll aus dem Rahmen, weil alle anderen in goldenen Gewändern für 5.000 Flocken dort aufschlagen. Ich fühle mich unwohl.
Doch als wir schließlich den riesigen Saal mit den roten Samtsitzen, der kilometerhohen Decke und den goldenen Verzierungen betreten, habe ich beinahe das Gefühl, wir sind overdressed. Vor uns sitzt ein Typ in Turnschuhen und Tennishemd. Neben uns eine Frau in Jeans. Bestimmt fallen wir voll aus dem Rahmen. Ha ha.
Die Vorstellung ist grandios. Wir sehen Salome von Richard Strauss. Die Sänger sind fabelhaft und die Interpretation ist fesselnd.
Reisen ist das Vermögen, Stimmungen, Lichter, Farben und einzigartige Momente zu sehen – nicht nur mit den Augen. Reisen bedeutet, immer auch mit dem Herzen unterwegs zu sein. Was für ein Trip!
Für mehr Lach- und Sachgeschichten findet ihr den ersten Teil unseres Railtrips durch den Osten Europas in meinem Bericht Wien & Budapest: Auf dem Schleudersitz in die Alte Welt.
lonelyroadlover (Sonntag, 12 Januar 2020 19:45)
Huhuuu ihr Zwei!
Ganz lieben Dank für euren netten Kommentar. :) Ich freu mich immer total, wenn mir jemand sagt, dass er einfach ganz laut lachen musste wegen meiner Berichte oder ganz doll nachgedacht hat und jetzt endlich was Wichtiges im Leben ändern will. DAS will ich mit diesem Blog. Keine scheißlangweiligen Hoteltipps, die es schon 500 Mal gibt. Reise ist SPASS und FREI SEIN.
Ganz liebe Grüße nach Thailand!
Sarah
Tani & Sarah (Samstag, 11 Januar 2020 17:55)
Soooo ein schöner Blog... Wir haben bei vielen Stellen echt mega lachen müssen.... Vielen Dank für den tollen Text Liebe Grüße vom Team Tuckerbus
Tani und Sarah