Es sind nur ein paar Sekunden. Ich gehe die Treppe hinunter, nehme meine Jacke vom Haken und bin schon fast auf dem Weg zum Auto. Als ich das kleine Instagram-Symbol auf meinem Handy sehe. Eine neue Nachricht. The Heck, bestimmt hat mir wieder jemand so ein blödes Katzenvideo geschickt. Ich öffne die Nachricht. Sie ist kurz.
Hi Sarah, Frank ist heute Morgen gestorben.
Ich stehe mitten im Raum und glotze die Wand an. Es ist so still, als würde gleich das Fenster platzen und in tausend Splittern auf die Straße regnen. Auf einmal scheint die Holzvertäfelung zu pulsieren und der Boden unter mir aufzuweichen.
Frank ist ein Freund aus Los Angeles, den ich 2017 auf meiner mehrmonatigen Soloreise durch die USA kennengelernt habe. Ich wusste, dass er Krebs hatte. Er hatte es im April 2019 öffentlich gemacht. Es war der Grund gewesen, weshalb ich im Sommer 2019 noch einmal nach Los Angeles geflogen bin. Um ihn zu besuchen. Mein Onkel war einige Monate zuvor an Krebs gestorben und ich wusste, wie todbringend diese scheißverfickte Dreckskrankheit sein kann.
Als ich die Nachricht von Franks Tod lese, überschwemmt mich neben Trauer und Verlust aber auch das warme Gefühl, dass ich letztes Jahr extra ins Flugzeug gestiegen bin, um ihn noch einmal zu sehen.
Leute – geht und besucht eure Familie, ruft eure Freunde an, verbringt eure Zeit nicht mit Überstunden, sondern mit euren Liebsten. Scheißegal, was es kostet. Hier kommen wundersame Erinnerungen an einen tollen Menschen – und tausend Gründe warum du niemals warten solltest!
Es ist der 4. Juni 2017. Ich stehe auf dem Parkplatz des High Desert Motels am Rande des Joshus Tree National Parks in Kalifornien. Ich warte auf Frank. Wir kennen uns über Instagram, sind über Landschaftsfotografie in Kontakt gekommen. Als er hört, dass ich aus Deutschland auf einer langen Reise von der US-amerikanischen Ostküste über die Route 66 nach Kalifornien komme, schlägt er vor, dass wir uns treffen. In real life, crazy shit. Ich weiß nicht mal genau, wie er aussieht. Aber ich weiß, dass er rund zwei Stunden aus Los Angeles zu meinem Motel rausfährt, nur um mir die schönsten Fotospots im Joshua Tree National Park zu zeigen. Weil es hier mittags heißer ist als auf dem Hähnchengrill, kommt er gegen 17 Uhr vorbei. Er hat schwarze Haare, ist Anfang 60 und hat seinen ganzen Kofferraum voller Kamera-Equipment. Ich hüpfe ins Auto und wir düsen los.
Gemeinsam fahren wir entlang der einmalig geformten Joshua Trees und zu einem Kaktusgarten. „Tritt bloß nicht in den Sand neben die Holzbohlen!“, warnt er mich mit seiner besonnenen und fürsorglichen Art, während er auf ein ominöses Warnschild deutet. Jaja, denke ich und verkrümel mich ganz kurz für ein Foto in den Staub abseits des Weges. Aber nur für ein paar Sekunden, bevor ich gefühlt hundert Kaktusstacheln in meinem Fuß stecken habe. Natürlich tue ich so, als wäre nix gewesen, während ich versuche, einigermaßen normal zu wirken und zugleich heimlich das Killergewächs aus meinen Füßen zu entfernen. Frank, ich habe dir das nie gesagt: Ich hab deine Warnung nicht für voll genommen und bin den ganzen Abend dämlich rumgehüpft, um meine Blödheit zu vertuschen. Wo immer du jetzt bist – du darfst lachen!
Als es dunkel wird, führt Frank mich zu einem steinernen Fenster in den runden Felsen, die wie Mondsteine in der Landschaft verteilt liegen. Ein Ort, der nicht auf der offiziellen Karte des Nationalparks verzeichnet ist. Ein Ort, den ich ohne ihn nie gefunden hätte. Er hat Klappstühle und Bier dabei. So sitzen wir unter dem weißen Vollmond in dieser außerirdischen Landschaft bis genug Sterne zu sehen sind, die durch das Felsenfenster scheinen. Es ist immer noch weit über 20 Grad warm und wir reden leise über Gott und die Welt. Es ist irgendwie magisch und die Welt so offen und frei. Gegen Mitternacht fährt er todmüde zwei Stunden zurück nach Hause. Er muss am nächsten Tag früh arbeiten. Er sagt, das macht nichts.
Drei Tage später bin ich in Los Angeles. Wir treffen uns erneut. Er lässt mir über die Gestaltung des Abends freie Wahl. „Sarah, du suchst die Sehenswürdigkeiten aus und dann fahren wir dahin!“ Falls ihr das alles jetzt komisch findet: Die Amerikaner sind so. Fast alle und egal, welcher politischen Anschauung. Herzlich, gastfreundlich, großzügig. Echt jetzt.
Ich möchte unbedingt das Griffith Observatory sehen. Vor allem, weil man von dort einen spektakulären Blick auf Los Angeles haben soll. Ich mache es kurz: An diesem Tag war ein großes Event am Observatorium. Ich habe den armen Frank in die absolute Verkehrshölle geschickt und am Ende sind wir auf dem Hollywood Boulevard im Hard Rock Café gelandet, wo ich uns mit furchtbar schlechtem Gewissen einen Berg Tortilla-Chips bestellt habe. „Egal“, sagt Frank lässig, lehnt sich zurück und macht einen Witz über Jim Morrisons enge Lederhosen, die in einer Vitrine ausgestellt sind.
Es ist im April 2019, als ich erfahre, dass Frank Krebs hat. Er hat bereits seinen Bruder an die scheißverfickte Dreckskrankheit verloren und sich seitdem um dessen Familie gekümmert. Es ist genau der Moment, in dem mir die Ärzte im Krankenhaus sagen, dass sie für meinen Onkel nichts mehr tun können. Wegen der scheißverfickten Dreckskrankheit. Ich möchte toben.
Ich frage Frank, wie schlimm es ist. Er sagt „Stage 4“. Ich schlage es nach und möchte danach am liebsten meinen Computer verbrennen. Stage 4 ist das letzte Stadium.
Nur wenige Wochen später fliege ich zu meinem Partner in die USA. Ich beschließe, dass ich in diesem Zuge auch zurück nach Los Angeles muss. Zu Frank. Wer weiß, wie lange es noch geht. Es ist jetzt oder nie.
Im September 2019 sitze ich im Flugzeug von Wyoming im Norden der USA, wo mein Freund lebt, nach Kalifornien im Süden zu Frank.
Frank kommt zu meinem Airbnb am Rande von Los Angeles, um mich abzuholen. Wie 2017. Er hat jetzt einen Bart. Er sieht älter und müde aus. Aber er gibt sich positiv. Die Therapie, die er seit einigen Monaten macht, scheint zu helfen. „Ich habe gute und schlechte Tage“, sagt er und wir bringen uns ein bisschen up to date über den Rest des Lebens. Er nimmt mich mit zu einer Fototour mit seinen Freunden. Wir wollen die Milchstraße über dem Meer in Malibu fotografieren. Er organisiert mir ein Stativ und lädt mich vorher noch zum Italiener ein. „Ich war mit meinem Sohn bei Morro Rock“, erzählt er. Ich weiß, dass der kugelrunde, riesige Felsen an der Pazifikküste einer seiner absoluten Lieblingsorte ist.
„Awesome“, sage ich ehrlich. „Ich bin froh, dass ihr das zusammen gemacht habt!“
„Wir haben auch über den Tod gesprochen“, erwidert Frank. „Ich finde es wichtig, darüber zu reden. Es nützt ja nichts.“
Zwei Tage später fotografieren wir gemeinsam am Flughafen von Los Angeles, bis wir von der Security angekackt werden. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe.
Leute – das Leben ist verdammt kurz und es gibt so verdammt viel verfickte Dreckscheiße da draußen. Vor sieben Jahren habe ich einen großen Fehler begangen und mir nicht genug Zeit für meine absolute Lieblingsoma genommen. Weil ich dachte, wir hätten noch so viel Zeit. Weil ich dachte, die Uni, meine Foto-Jobs und das Abgammeln vorm Fernseher wären wichtiger. Dann ist sie plötzlich über Nacht an einem Blutgerinnsel im Kopf gestorben – und ich hätte vorher so viel besser sein können.
Wenn ihr Großeltern habt: Ruft sie an, backt Kuchen, fahrt vorbei, schaut euch mit ihnen Familienalben an, lasst sie vom Krieg erzählen.
Wenn ihr Eltern habt: Unternehmt was mit ihnen, lasst sie wissen, was ihr so macht und ob ihr glücklich seid. Lasst sie wissen, dass sie tolle Eltern waren und sind. Selbst wenn sie es nicht waren: Überlegt, ob ihr nach zehn Jahren Schweigen nicht doch noch mal den Telefonhörer in die Hand nehmt, um es ein letztes Mal zu versuchen.
Wenn ihr Kinder habt: Nein, euer scheiß Beruf ist nicht das Wichtigste! Klar braucht man Geld zum Leben, aber eure Töchter und Söhne wachsen nur ein einziges Mal auf, lernen Fahrradfahren, haben Angst vor der Schule, kommen betrunken nach Hause. Verpasst das nicht!
Wenn ihr Freunde habt: Geht mit ihnen raus, macht Spiele-Abende, fahrt zusammen ans Meer, lacht, trinkt Wein, singt im Auto zu Musik, umarmt sie.
Wenn ihr einen Partner habt: Nehmt ihn niemals für selbstverständlich, hört einander zu, streitet nicht über dreckige Socken, küsst euch oft und liebt laut.
Aber das Allerwichtigste: Egal, wer euch etwas bedeutet – schreit es raus! Jeden Tag. Wartet nicht.
Es gibt tausend Wege zu sterben. Aber auch tausend Wege, jemandem zu zeigen, wie viel er euch bedeutet. Schreibt Postkarten, schickt Blumen, klingelt spontan an der Tür, sendet einen scheiß Emoji auf WhatsApp. Haltet euch fest, solange ihr euch habt. Wenn ihr keine Zeit habt, nehmt sie euch. Wenn ihr kein Geld habt, spart etwas an oder leiht euch etwas aus. Hört auf, Ausreden zu finden.
Und wartet nicht.
Niemand will über den Tod reden. Schon gar nicht, wenn wir jung sind. Aber es kann jeden treffen. Jetzt sofort. Tumor, Flugzeugabsturz, Haushaltsunfall. Dem Tod ist es scheißegal, wie alt wir sind, was wir noch alles vorhatten und wen wir hinterlassen.
Wartet nicht. Niemals.
Ich schaue das verschwommene Selfie an, das Frank und ich 2017 gemeinsam am Strand mit meinem Gammel-Handy geschossen haben. Ich weiß, dass wir nie wieder über den Hollywood Boulevard donnern werden, nie wieder über Jim Morrisons Hose lachen werden und nie wieder alle Sterne am Himmel sehen werden.
Aber ich weiß auch, dass ich nicht gewartet habe und ich weiß, dass er weiß, was er mir bedeutet hat. Neben Trauer und Verlust ist da dieses warme Gefühl.
Frank, wo immer du jetzt bist – wir dürfen beide ein bisschen lachen.
Wenn du nach weiterer Inspiration für dein Leben und einer Portion philosophischer Gedanken mit Lebensmut suchst, schau doch mal in meinen Beitrag Die Angst vor dem Tod und wie ich sie verloren habe vorbei.
Lonelyroadlover (Dienstag, 01 Dezember 2020 18:11)
Hey Sarah und Max!
Vielen lieben Dank für euren offenen und herzlichen Kommentar! :)
Ihr seid auf jeden Fall sehr bewusst im Alltag und ich finde es total klasse, dass ihr versucht, euch immer wieder vor Augen zu führen, dass es jederzeit vorbei sein kann - selbst auf dem Weg zur Arbeit oder zur Mülltonne. Ich glaube, wenn man im Streit weggeht und der andere dann einen Unfall hat, würde man sein Leben nicht mehr froh werden. Chapeau für eure Einstellung!
Alles Liebe und Gute für euch!
Sarah
Lonelyroadlover (Dienstag, 01 Dezember 2020 18:08)
Hey Pedro,
danke wie immer für deine Worte und Gedanken. Du hast Recht: Verzeihen ist nicht leicht. Und auch ich habe Menschen im engsten Familienkreis, denen ich nach allem nicht mehr verzeihen kann. Da ist einfach zu viel passiert und da war immer nur einseitiges Vergeben und Aufeinanderzugehen.
Dass man allerdings ohne Chance auf Glück geboren wird, glaube ich persönlich nicht. Ich denke, jeder kommt mit unterschiedlichen Voraussetzungen zur Welt und der eine hat es leichter und der andere schwerer. Aber wir sind alle unseres Glückes Schmied und dürfen uns nicht vom Verhalten anderer abhängig machen, egal, was sie uns mal angetan haben.
Viktor Frankl ist sehr weise. Nicht immer kann man so handeln, wie er es sagt. Aber man kann es zu einem gewissen Grad versuchen. Und sonst unbedingt einfach das eigene Ding machen!
Liebe Grüße
Sarah
SarahundMax (Sonntag, 29 November 2020 20:37)
Wieder einmal ein so grandioser Beitrag der einem dem Mund offen stehen lässt. Ich hab auch schon viele Verluste erleben müssen. Daher weiss ich, jedes mal wenn Max oder ich zur Arbeit gehen. Jedes einzelne Mal:"Fahr vorsichtig, bau kein Unfall, Ich liebe dich!" Kuss!
Und selbst wenn wir uns kurz vorm tschüss sagen gestritten haben, legen wir alles beiseite und zeigen uns das wir uns Lieb haben. Lebe und Liebe mit offenem Herzen ❤
Don Pedro (Sonntag, 29 November 2020 10:02)
Servus Sarah,
das sind eindringliche Worte von Dir, die unter die Haut gehen und sehr nachdenklich machen. Ich denke oft so wie Du und doch kann ich häufig nicht aus meiner Haut schlüpfen, um zu verzeihen, zu vergeben und ganz so "einfach mit Liebe an die Menschen herangehen", die mich in meinem bisherigen 60 jährigen Leben drangsaliert, gedemütigt und scheiße behandelt haben.
Nicht immer gehören "zwei dazu", um diese Drecksmomente erleben zu müssen. Vielleicht hatte mann/frau einfach von Anfang an in diesem/dieser Leben/Inkarnation an keine Chance auf Glückseeligkeit (Karma, Seelenplan, etc.).
Folglich bin ich sozusagen mit der "Gesamtsituation nicht sehr zufrieden".
Auch ist es verdammt schwer, Glück von "Innen zu erzeugen", wenn es im Außen so verkackt ist. Viktor Frankl schreibt aber, dass das sehr wohl möglich ist ...
Ich gebe dem menschlichen Leben angesichts der multiversellen Konstellation an sich sowieso keine so große Bedeutung bei. Die menschliche Rasse war, ist und bleibt dumm und verblödet, wie sonst kein anderes irdisches Wesen.
Nichts desto trotz gebe ich doch alles für Benachteiligte, Einsame, Freunde (finanzielle Mittel, Anwesenheit, Empathie), um die Welt ein bisschen besser und liebenswerter zu machen. Ich kann nicht anders.