Es ist dunkel und ich sitze auf meinem neuen Bett. Es riecht nach frischem Holz und gerade eben habe ich noch eine nutzlose Schraube gefunden. Ich knalle sie auf meinen neuen Schreibtisch und hoffe, dass ich am Morgen nicht eine Etage tiefer aufwache. Dann drücke ich mir mein neues Kissen in den Bauch, um den furchtbaren Krämpfen in meinem Unterleib entgegenzuwirken. Ich schließe kurz die Augen und versuche, ruhig zu atmen. Alles scheint sich zu drehen, als wäre ich in ein riesiges Kaleidoskop gekracht.
Irgendwo zwischen den schroffen Bergen von Wyoming, über den Wolken, im Tiefschnee, zwischen fallenden Blättern und stürzenden Bächen habe ich es gewusst: Wenn ich zurückkomme, dann wird mein Leben auseinanderbrechen. Implodieren. Acht Jahre. Acht Jahre lang war ich mit meinem Freund zusammen. Wir hatten gute Zeiten und beschissene Zeiten. Ich hatte mal gedacht, es wäre das große Ding. Natürlich. Aber dann passierte zu viel. Und zu viel anderes passierte nicht.
Mein Herz rief mich hinaus in die Welt. Zu meinem Lebenstraum, für mehrere Monate die gesamten USA zu bereisen. In die berufliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Es rief immer lauter. Lebe deinen Traum!
Und dann realisierst du, dass dein Traum nicht der von jemand anderem ist. Und dass du nur zwei Optionen hast: dich belügen und bleiben oder deinem inneren Ruf folgen und gehen. Vor einem Monat habe ich allen Mut genommen und bin gegangen.
Als die Krämpfe nachlassen, falle ich auf den Rücken und starre die weiße Decke an. In meiner neuen Wohnung. Über mir an der Lampe baumelt der kleine, antike Globus, den ich in Florenz gekauft habe. Von unten sehe ich nur die Antarktis. Antarktis im Herzen. Und zugleich ein einziges Feuerland. Jemandem in die Augen zu sehen und zu sagen, dass es vorbei ist, ist eine der beschissensten Sachen der Welt. Etwas auszusprechen, was man schon lange gefühlt hat. Irgendwo. Und es aus Angst weggedrückt hat wie die Vorschau zu einem Horrorfilm. Aus Angst vor der Entscheidung. Vor dem Neuen. Vor dem, was dein Leben mit dir vorhat.
Wie kann dich dein eigenes Herz von etwas wegleiten, das es einmal geliebt hat. Was für ein Paradoxon. Aber ich wusste, dass es nicht mehr geht. Zum ersten Mal war ich mir sicher. So sicher, dass ich nicht mehr zurückspulen konnte, um mir alles noch einmal anzusehen.
Also liege ich jetzt hier und unterdrücke die Schmerzen in meinem Magen. Die habe ich immer mal wieder, wenn ich Stress ausgesetzt bin und mir etwas zusetzt. Aber noch nie war es so krass wie dieses Mal. Noch nie ist so krass alles auseinandergeflogen wie dieses Mal. Ein einziger Sternenhaufen aus zersprengten Feldbrocken kreist in meinem Kopf.
Als wir uns kennengelernt haben, waren wir uns so ähnlich. Da war ich noch nicht ich. Innerlich schon. Aber ich hatte kein Geld, noch keine fertige Ausbildung und alles war bloß ein Traum am Horizont der Zukunft. Wir gingen zur Uni, fuhren einmal im Jahr vom gesamten Ersparten eine Woche lang irgendwo hin in Europa. Ich war glücklich. So viel Ehrlichkeit muss sein.
Und dann irgendwann begannen wir, uns zu verlieren. Ich arbeitete viel, bei der Zeitung, am Wochenende, im Museum, 40 Stunden. Mein Freund fand immer weniger Motivation für die Uni. Es war schon damals nicht das Leben, das ich leben wollte. Aber auf einmal war Geld auf meinem Konto. Mehr als je zuvor. Und auf einmal war da dieser kalte Tag im Herbst 2015. Es regnete und ich donnerte mit meinem Auto auf den Parkplatz der Sparkasse. Ich lief ohne Schirm hinein und die Straßenbeleuchtung schimmerte schon orangefarben durch die Fenster. Am Automaten holte ich einen Kontoauszug. Ich sah nach unten auf den Gesamtstand. Und meine Hände begannen, zu zittern. Längst hatte ich eine Kalkulation für meine große USA-Reise gemacht – mit einer bestimmten Summe X. Und an diesem Tag war Summe X auf meinem Konto. Ich ging zurück zu meinem Auto wie in Trance, fuhr los, drehte das Radio auf und schrie: „ES IST SOWEIT! Oh Gott, ich muss meinem siebenjährigen Ich sagen, dass es wahr wird!“
Niemals werde ich diesen Moment vergessen. Ich hatte Tränen in den Augen. Fast 20 Jahre nachdem ich zum ersten Mal von dieser Reise geträumt hatte. Hatte ich es schwarz auf weiß.
Natürlich war es nie mein Plan gewesen, dieses Abenteuer alleine zu bestehen. Aber es zeigte sich, dass mein endloser Enthusiasmus bei meinem engsten Vertrauten seine Grenzen hatte.
Ich schrieb dennoch unentwegt meine Pläne. Im Sommer 2016 fuhr ich nach Frankfurt und beantragte mein B2-Visum. Wir redeten nicht viel darüber. Ein Fehler? Vielleicht. Hätte es etwas geändert? Nein.
Im April 2017 flog ich. Mit meinem Koffer, meinem Rucksack und meinem Herzen voller Mut und Panik und dem unglaublichen Wissen, dass ich mir gerade meinen Lebenstraum erfüllte.
Vier Monate lang war ich unterwegs. Alleine. 25.000 Kilometer mit Flugzeugen, Bussen, zu Fuß und mit dem Auto. Bin wundervollen Menschen begegnet, unfassbaren Landschaften, harten Herausforderungen, tiefster Freude und Dankbarkeit und habe mich am Ende selbst besiegt. Als ich nach Hause kam, wusste ich noch nicht, was passiert war. Ich freute mich auf meine Freunde und meine Heimat.
Das war das erste Mal, dass wir heftig aneinander gerieten. Über alles, was passiert war und über die Zukunft. Wir versuchten es noch einmal. Ich wollte es nicht gehen lassen. Sieben Jahre wirft man doch nicht einfach weg. Es musste doch eine Lösung geben.
Nur eine Woche, nachdem ich in meinem neuen Vollzeitjob angefangen hatte, kündigte ich wieder. Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung, dass etwas aus den Fugen geraten war. Ich hatte auf mein Herz gehört und meinen Traum wahrgemacht. Jetzt sollte das normale Leben weitergehen. Ich hatte schließlich alles erreicht.
Vor allem aber hatte ich erreicht, dass etwas in mir aufgewacht war. Das Gefühl, dass ich in der Lage war, Dinge wahrzumachen. Auch wenn sie noch so verrückt erschienen. Ich hatte die Wüste bei 46 Grad durchkreuzt, einen Tag unter Tornado-Warnungen in lila Wolken überlebt, es mit Einsamkeit und Zweifeln aufgenommen, mich völlig fremden Menschen anvertraut, sie zu Freunden gemacht. Ich hatte eine Million Sterne in schwärzester Nacht gesehen und die Erde unter meinen Füßen in Regenbogenfarben brodeln hören.
Ich begann, über Selbstständigkeit zu recherchieren, scheiterte und schaffte es dann im Februar 2018 schließlich doch. Ab jetzt war ich mit Kamera und Laptop unterwegs. Ich wackelte und drückte mir Kissen auf den aufgeregten Bauch, aber ich schaffte es. Es lief. Ich begann, neue Reisen zu planen. Kleine. Kurze. Hier zwei Wochen und da drei Wochen. Und auf einmal war ich schon wieder zehn Wochen lang unterwegs und zwischendurch immer nur kurz zu Hause, um ein paar Ortstermine für meinen Job wahrzunehmen und zu waschen.
Auf einem Trip kam mein Freund mit. Wir hatten eine schöne Zeit. Aber mehr war für ihn nicht drin. Der geregelte Job. Das Geld, das er nicht wie ich mit Begeisterung mit vollen Händen ins Reisebüro warf. Die Begeisterung überhaupt. Diese völlig losgelöste und nicht normale Begeisterung für das Leben. Er war derjenige, der mit Schuhen auf dem Weg stand, während ich barfuß über die nasse Wiese rannte. Immer. Nur wurde es auf einmal so offensichtlich.
Im Oktober 2018 flog ich zurück in die USA, um einen guten Freund zu besuchen, den ich im vergangenen Jahr kennengelernt hatte. Als ich die weiten Straßen, die goldenen Sonnenuntergänge, die unendliche Weite, das Steppengras, die dunkelblauen Flüsse und die schroffen Berge wiedersah, zersprang etwas in mir. Es klickte. Ganz leise aber ganz fest. Ich schloss die Augen im Auto, hörte das warme Lachen meines Begleiters, blinzelte gegen das Licht und spürte, dass ich nicht von etwas weggeflogen war, sondern zu etwas hin.
Nebenbei hörte ich kaum etwas von zu Hause. Wieder einmal. Eines Abends nahm ich mein Handy, schaute den leeren Posteingang an, warf es auf mein Bett und rief: „DANN LASS ES DOCH!“
An meinem letzten Abend blickte ich lange auf mein Flugticket und überlegte, es zu zerreißen. „Alles ist möglich“, sagte mein Herz. „Du weißt es. Du hast es selbst bewiesen. Mehr als einmal. Geh weiter. Du kannst es. Du musst es.“
Ich steckte das Ticket in die Klarsichtfolie und wusste, dass ich die finale Explosion zu einem geregelten Abschluss bringen musste. Ich starrte auf den Kalender. Es war der 14. Oktober. Ich öffnete WhatsApp und schrieb meinem besten Freund. Nur einen kryptischen Satz: „Vielleicht erinnerst du dich irgendwann an den 14. Oktober als den Tag, an dem ich durchgedreht bin.“
Nachträglich gesehen bin ich nicht durchgedreht, sondern habe eine heftige aber notwendige Entscheidung getroffen.
Ich flog nach Hause. Ich begann, nach Wohnungen zu suchen. Erst einmal etwas für den Übergang. Dann musste ich reden. Alles war schwerelos. Aber klar wie ein Morgenhimmel im Dezember. Irgendwie wünschte ich mir, es wäre etwas Dramatischeres vorgefallen. Etwas, bei dem man schreien und toben könnte. Aber es ist bloß leise. Und schade.
Es ist dunkel und ich sitze auf meinem Bett. Es riecht nicht mehr nach frischem Holz. Ich habe kaum noch Magenkrämpfe und esse Eis. Ich bin meinem Herzen gefolgt und dieses Mal war der Preis ziemlich hoch. Aber richtig.
Wenn der Moment kommt, in dem dich dein Lebensweg oder deine Bestimmung so stark ruft, dass du glaubst, kaputtzugehen, wenn du nicht darauf hörst – dann nimm deinen Mut und lauf los. Reiß die Hütte ab. Sei so ehrlich mit dir wie nie zuvor. Bis es wehtut. Nimm deine Zweifel und schmeiß sie weg. Sicher fallen dir hundert Gründe ein, weshalb etwas nicht geht. Aber die Wahrheit ist, dass dein Endgegner deine eigene Angst sein wird. Vor dem Neuen, vor dem Scheitern, vor dem Brechen mit Konventionen.
Es klingt immer so wahnsinnig aufregend und toll, seinen Träumen zu folgen. Aber es bedeutet nicht, immer nur unter Konfettiregen am Strand zu tanzen. Wenn du das weißt und wenn du nicht davor zurückweichst – dann ist alles möglich. Glaub mir: alles. Ganz schön beängstigend und verrückt, oder?
lonelyroadlover (Mittwoch, 02 Januar 2019 19:12)
Hallooo lieber Tuckerbusser! :)
Lieben Dank für das tolle Kompliment. Ich habe mich eine Weile gescheut, den Text zu schreiben. Ich wusste nicht, ob ich so offen mit mir selbst vor anderen sein kann. Aber ich muss. Ich möchte Menschen inspirieren, ihr Glück zu finden und ihre Träume wahrzumachen. Dafür muss man auch beschissene Wahrheiten aussprechen können. Denn sie können Mut machen und zeigen, dass man weitermachen kann. Dass man manchmal eben harte Entscheidungen fällen muss, um man selbst bleiben zu können. Dass Träume eminent wichtig sind.
Das wisst ihr aber alles am besten selbst.
Ich grüße euch gaaaaaanz lieb!!
Sarah
lonelyroadlover (Mittwoch, 02 Januar 2019 19:09)
Hallöchen liebe Anke!
Danke für die tollen Worte. :) Es war eine echt beschissene Zeit aber wie sagt Britta immer so schön: "Drüberleben". Weitermachen. Große Pläne haben. Nicht aufgeben. Träumen. Realisieren. Das kennst du ja alles.
Ich wünsche dir alles Liebe für 2019 und freue mich, dass du meinem Blödsinn folgst!
Liebste Grüße,
Sarah
Tani & Sarah (Freitag, 30 November 2018 08:59)
Hallo Sarah,
das ist ein wahnsinnig emotionaler Text. Viele deiner Gedanken, Ängste, aber auch Wünsche und Träume können wir sehr gut nachvollziehen. Einen Traum zu verwirklichen, gerade einen so großen Lebenstraum, erfordert meist viel Kraft und Mut. Doch wenn man alles dafür gibt und geben möchte, ist er es auch wert. Wir wünschen dir alles Gute für den Weg, für den du dich entschieden hast!
Liebe Grüße vom Team Tuckerbus
Tani, Sarah und Björn der Bus
Anke von Heyl (Sonntag, 25 November 2018 21:00)
Liebe Sarah,
das hast du alles genau richtig gemacht!!! Ich bin wirklich immer wieder von deiner Begeisterung für Abenteurer beeindruckt. Und deine Lust, vorwärts zu gehen, ist wunderbar.
Ich wünsche dir für alles, was du vorhast, ganz viel Erfolg.
Herzliche Grüße
Anke