„Holy Shit Moly!“, rufe ich galant und in diskreter Megaphonlautstärke quer über die Hügel. Überall dampft und faucht es. Direkt vor meinen Füßen und weit hinten am Horizont zwischen den dunkelgrünen Tannen und den schwarzen Baumskeletten. Kleine Blasen steigen aus dem gelben Tümpel vor mir auf. Als hätte jemand versehentlich brüllend heiße Fanta verschüttet.
Ich bin mitten im Upper Geyser Basin im Yellowstone National Park. Den großen, bekannten Geysir – Old Faithful – kannte ich schon von meinem Trip in 2017. Und genau deshalb bin ich etwas ungehalten an einer Massenansammlung asiatischer Touristen vorbeigelatscht und habe beschlossen, ihn dieses Mal weitestgehend zu ignorieren. Denn hier gibt es nicht nur den einen Geysir, sondern hunderte von kleinen Hot Springs, bunten Kratern, heißen Fontänen und abgefahrenen Felsformationen. Zwischen den Bergen der Rocky Mountains befindet sich die größte Konzentration von Geysiren auf der Welt. Manche brechen zu einer bestimmbaren Zeit aus, viele sind unvorhersehbar. Es könnte fünf Minuten dauern oder 50 Jahre. Doch im Grunde ist es egal, ob sie wirklich ausbrechen, denn allein die schiere Regenbogenpracht ihrer Existenz lässt meine Kameralinse springen und gibt mir das Gefühl, einen LSD-Trip auf dem Mars zu haben.
Ich befinde mich auf dünnem Eis. Oder eher auf dünnem Feuer. Es ist wie in einem abgefahrenen Computerspiel, wo man direkt ein Leben verliert, wenn man neben die Linie tritt. Thin Crust Area. Das gesamte Upper Geyser Basin ist instabil und wenn ich für ein dämliches Instagramfoto vom Boardwalk in die Landschaft springen würde, könnte ich möglicherweise einbrechen und verdampfen.
„Dann muss ich deinen Dad anrufen, ihm deine Knochen schicken und erklären, was passiert ist“, sagt mein Freund ernst und etwas leidig. Das sagt er übrigens immer – in verschiedenen Varianten – wenn wir gerade mal wieder über höchst dubiose Felsspitzen klettern oder ich die Idee habe, meine Füße in einen reißenden Bach aus Schneeschmelze zu halten.
Ich beschließe daher, meinen Enthusiasmus darauf zu beschränken, wüste Flüche der Begeisterung durch die Gegend zu rufen. Zum Glück kann man sie zwischen dem Zischen und Röcheln der speienden Erdlöcher kaum hören.
Egal, wie viele bunte Fontänen und bubbelnde Krater ich heute noch sehe, kein Geysir und keine Thermalquelle ist wie die andere. Jede hat ihre eigene bizarre Form, ihre eigene bunte Bakterienkultur und formt ihre ganz unverwechselbare Einmaligkeit. Und das Verrückte: In ein paar Tagen, Wochen oder Monaten könnte jede von ihnen schon ganz anders aussehen. Denn nichts hier ist abgeschlossen. Die Erde lebt!
Noch verrückter und unvorstellbarer ist nur die Tatsache, dass sich der gesamte Yellowstone National Park in einem riesigen Vulkankrater befindet, der vor 600.000 Jahren zum letzten Mal Armageddon-like explodiert ist. Jetzt nicht so ein pieseliger Krater wie der vom Vesuv, sondern ein monströses Etwas von 50 Kilometern Breite und 80 Kilometern Länge. Ja, Mann! Geologen haben herausgefunden, dass der unterirdische Vulkan seit 17 Millionen Jahren aktiv ist und der Ausbruch einen Ascheregen bis Kalifornien ausgelöst hat. Im Katastrophen-Film „2012“ wird ein neuerlicher Ausbruch dargestellt. Natürlich ganz undramatisch im typischen Roland-Emmerich-Stil. Spoiler-Alarm: Am Ende fliegen alle Kontinente auseinander und die Menschheit ist quasi ausgerottet. Also völlig harmlos.
Wer auf Verschwörungstheorien und Geologie-Spekulationen steht, sollte aber unbedingt mal tiefer ins Erdreich der Materie eindringen, denn es gibt durchaus spannende Ansätze und Forschungen über einen zukünftigen Ausbruch des Supervulkans und seine Folgen.
Für den Moment reicht es mir, die Folgen der letzten Eruption zu bewundern – und das sind ganz eindeutig die ganzen Geysire, Hot Springs und Mud Pots, die nur existieren, weil es immer noch tierisch brodelt unter der Oberfläche.
Wir stiefeln im Upper Geyser Basin durch die Mittagshitze über die schmale Asphaltspur, die sich zwischen den gefahrvollen Feldern erstreckt. In Wyoming ist es entweder minus 20 Grad kalt und schneit wie Scheiße oder man bekommt gleich einen Hitzeschlag. Manchmal sogar beides an einem Tag. Es ist faszinierend, wie sehr der Golfstrom unser Klima in Europa mäßigt und es plötzlich auf mich wirken lässt wie das plörrige, lauwarme Wasser einer Badewanne nach einer Stunde Wartezeit. Hier drüben in den USA toben stattdessen die Temperaturunterschiede und lassen mich mit dem verblüfften Gefühl zurück, dass es am 7. Juni so stark geschneit hat, dass der Ost-Eingang zum Yellowstone Park gesperrt werden musste.
Jedes noch so kleine, blubbernde Wasserloch ist mit einem Namen versehen. „Chromatic Pool“, „Riverside Geyser“, „Crested Pool“. Und jeder Name trifft ins Bunte. Manche Geysire haben ganze Kunstwerke gebaut und sehen aus wie weiße Schlösser, Grotten oder Tierformationen. Das Wasser, das die Geysire ausspeien, kommt typischerweise von einem unterirdischen Grundreservoir. Ein dünner Kanal führt von dort aus zur Erdoberfläche, wodurch der siedende Springbrunnen dann mit einer Menge Kraft hervorschießt. Faktoren wie Regen, Jahreszeiten oder Luftdruck beeinflussen die Aktivität des Geysirs, aber oft hat niemand einen echten Plan, wann der nächste Ausbruch stattfindet. Was wären auch die Wunder der Erde, wenn man sich nicht ab und zu mal wundert!
Der Asphalt-Weg führt bis zum Firehole River – ja, alle Orte hier draußen haben so fantastische Namen! – und von dort zum unglaublichen „Morning Glory Pool“. Der ist definitiv ein großes „Holy Shit Moly!“ wert. Ich starre in den farbenprächtigen Teich, dessen Anfänge in dunkler Tiefe verschwinden. Gelb, orange, türkis, blau. Als hätte jemand einen Wasserfarbkasten ausgekippt. Van Gogh wäre vor Neid kopfüber in den Tümpel gefallen. Aber dann hätte vermutlich sein Ohr die Thermalquelle verstopft und sie wäre abgestorben.
Kein Scherz – es ist absolut verboten (und dumm wie Eselkacke), etwas in einen Geysir oder eine heiße Quelle zu werfen. Diese können dadurch tatsächlich in ihrer Aktivität gehindert und zerstört werden. Deshalb mache ich nur drölfzig Komma acht Fotos und genieße ansonsten gemeinsam mit meinem Freund den faszinierenden und unwirklichen Anblick dieses kleinen Kraters.
„Manchmal denke ich, ich sollte anfangen, Geologie zu studieren“, sage ich zu ihm. Dann fällt mir ein, dass das nicht geht, weil ich zu viel reise, weil ich mir Geologie ansehen möchte.
Das Leben ist zu kurz für all die Dinge, die ich gern machen würde. Ich habe keine Ahnung, wann ich zuletzt mal ein Gefühl von Langeweile hatte. Ich habe nicht mal mehr eine Ahnung, wie man das buchstabiert. Könnte aber auch daran liegen, dass ich seit über einem Monat in den USA bin und ausschließlich Englisch spreche, weshalb mein Deutsch ab und an tierisch den Bach runtergeht.
Der Rückweg durch das Upper Geyser Basin führt uns weg vom Asphalt hin zu hölzernen Boardwalks, die vom Park Management überall dort installiert wurden, wo es sicher ist. Hoffentlich. Wobei. In einem LSD-Rausch bunter Geysire zu verdampfen, ist sicher nicht die schlimmste Möglichkeit zu sterben. Oder die langweiligste. Yuck – ich habe das Wort ausgesprochen!
Als wir an einem großen, bräunlichen Wasserloch stoppen, betrachte ich das Schild, das mir mitteilt, dass der Pool „colorful“ ist.
„Die sollten das umbenennen in Kupfer-Loch“, sage ich und ziehe eine Augenbraue hoch.
Mein Freund erklärt mir, dass die Thermalquelle vermutlich vor vielen Jahren einmal anders und bunter ausgesehen hat, sich dann aber eben verändert hat. Hoffentlich nicht, weil irgendwelche Kackbratzen Münzen reingeworfen haben. Ich möchte das gern laut sagen, weiß aber das englische Wort für „Kackbratzen“ nicht. Deshalb sage ich schnell etwas Wissenschaftliches, um meine Unwissenheit über unangemessene Flüche zu verbergen.
Am Ende landen wir wieder bei Old Faithful. Auf der nicht-touristischen Seite, fernab asiatischer Massenkarambolagen. Und genau in dem Moment, als ich hinsehe, bricht der berühmte Geysir aus.
„Holy Shit Moly“, sage ich noch einmal. Leise. Und ziemlich beeindruckt.