Als wir vom Mont-Saint-Michel wegfahren, ist es amtlich: Wir befinden uns auf dem Rückweg nach Paris. Rundtrips haben die Angewohnheit, einem mitten auf der Reise kurz das Gefühl zu geben, schon nach Hause zu fahren. Aber dafür spart man sich die teure Einwegsteuer beim Mietwagen. Und zwei Sachen wollten wir unbedingt noch mitnehmen: die 50 Kilometer lange Schlange am Schloss Versailles und den vollkommenen Verkehrswahnsinn mitten in Paris. Natürlich bei 32 Grad im Schatten mit einem kleinen Fiat, bei dem sich die Dachluke nicht gegen das Sonnenlicht schließen lässt. Auf meiner Haut glänzt ein Film aus Schweiß und Sonnencreme, als wir auf den genial ausgebauten Schotterparkplatz mit extra dicker Körnung am Chateau in Versailles rumpeln. Ein Parkanweiser fuchtelt wild und deutet auf einen gerade frei werdenden Platz. Leider versteht er nicht ganz, dass das andere Auto erst herausfahren muss, bevor wir hinein können. Wir fahren einfach zu Deutsch. Wären wir mehr französisch, hätten wir das Fahrzeug in der Parklücke einfach mit drei gezielten Hieben und Schrammen weggeboxt. Hier kommt ein augenzwinkernder Abschlussbericht, mit dem schwarzen Pfeffer der Ehrlichkeit gewürzt.
Golden glänzt das riesige Schloss Versailles in der brüllenden Sonne. Vor dem Tor ist eine Menge versammelt, als wäre gerade Tom Cruise für Mission:Impossible Teil 10 angereist. Tatsächlich scheint es kurz unmöglich, aufgrund der Menschenmassen in den Innenhof zu gelangen. Bei der Sicherheitskontrolle schielt ein gelangweilter Kerl auf meine Kameratasche, in der ich auch unbesehen ein Jagdgewehr hätte mitbringen können. Dann stehen wir auf dem Kopfsteinpflaster, das uns kräftig von unten einheizt, während kein einziger Lufthauch weht.
Über den gesamten Platz verläuft in Kurven eine Schlange. Ich ziehe meine Oberlippe hoch und überdenke den Plan, mir die Säle heute noch von innen anzusehen. Vermutlich stehen wir hier bis zum Morgengrauen, wenn wir bis dahin nicht verdampft sind. Wir kämpfen uns vor bis zu dem meterhohen, majestätischen Tor und werfen wenigstens kurz einen Blick auf die inneren Gebäude. Danach beschließen wir, dass uns selbst toller Prunk und Protz keine Verbrennungen dritten Grades wert sind und machen uns auf den Weg in den kostenlosen Schlossgarten hinter dem unverschämt riesigen Bau.
Das Chateau Versailles gehört zu den größten Schlossanlagen in Europa und war lange Zeit Hauptsitz der französischen Könige, weil die keinen Bock auf Paris hatten. Der Baustil ist Barock und an der breitesten Stelle misst das Gebäude 500 Meter. Kleine Brötchen hat hier wohl keiner gebacken, obwohl es mindestens 150 Grad heiß ist. Der Hofstaat umfasste übrigens zwischendurch mehrere tausend (!) Personen. Dementsprechend sind auch die Gärten viel mehr als eine Blumenwiese mit Brunnen. Bis zum Horizont erstrecken sich meterhohe Hecken, Treppen, Kaskaden und ein kleiner See, auf dem man Boote mieten kann. Natürlich sind an diesem Tag sämtliche Brunnen aus. Man hätte ja sonst auch etwas sehen können (oder den kleinen Finger abkühlen können). Wir wandern hinab in ein Gewirr aus gepflegten und gestutzten Grünanlagen. Es ist ein bisschen so wie beim Verrückten Labyrinth (kennt ihr das Spiel noch?), wo hinter jeder Ecke eine neue Statue, ein goldener Fisch oder ein kleines Monument lauert. Die hohen Büsche werfen wunderbaren Schatten, während kleine Papamobile mit Touristen durch den Dreck auf den Wegen brettern und eine Staublunge verursachen.
Irgendwann schleppen wir uns zurück hinauf zum Schloss. Im Museumsshop frage ich nach einem Flyer, weil ich noch so Neunziger bin, dass ich solche Dinge auf Reisen sammle. Die Dame an der Kasse gibt mir erst einen Lageplan, den ich nicht brauche, weil ich schon auf allen Vieren durch das Gelände gekrochen bin, und anschließend einen Guide für Kinder. Dabei hatte ich eher gedacht, ich wäre in den vergangenen Stunden rapide gealtert. Wir verschwinden. Kleiner Tipp also: Besucht das Schloss Versailles lieber abseits der Saison, bucht eure Tickets vor (auch da lauern allerdings lange Warteschlagen, weil sich diese Idee herumgesprochen hat) oder beschränkt euch auf die – objektiv gesagt – echt schönen und kostenfreien Gärten. Vielleicht plätschern dann ja sogar wieder die unzähligen, kunstvollen Brunnen vor sich hin.
Kurz darauf geht es nach Paris, wo wir unseren Mietwagen am Gare du Nord abgeben müssen. Mein Freund Alex sitzt am Steuer, weil mein Kopf pulsiert und mein Magen randaliert und ich gerade nicht willens bin, in eine Großstadt einzufahren. Aber so schlimm wird es schon nicht werden, denn schließlich bin ich schon in Städten wie Marseille, Dublin, Chicago und Los Angeles Auto gefahren und jedes Mal war es viel harmloser als erwartet.
Schöne Scheiße. Ich hatte keine Ahnung vom Stadtverkehr in Paris. Schon in der idyllischen Peripherie zwischen Plattenbauten und überquellenden Müllcontainern bricht der absolute Wahnsinn los. Motorräder und Mofas donnern in Lichtgeschwindigkeit links und rechts an uns vorbei. Die Seitenspiegel erzittern und wir gucken wie Kugelfische. Irgendwie ist den Franzosen außerdem wohl die Farbe ausgegangen, denn auf den breiten Straßen fehlen die Fahrbahnmarkierungen völlig. Ich stelle kurz darauf fest, dass das irrelevant ist – denn sie würden eh niemanden interessieren.
Als wir in einen großen Stau geraten, fange ich an, Blut zu schwitzen. Drei Spuren mit Auf- und Abfahrten, blinkenden Räumfahrzeugen, Tunneln und dröhnend aufheulenden Motoren von Bikern, die ihre Maschinen zwischen den stehenden Autos hindurchprügeln, als wäre das Jüngste Gericht hinter ihnen her. Ein Fahrer reißt sein Mofa vor unserer Motorhaube herum und drängt an dem Fahrzeug vor uns vorbei, wobei es den halben Lack an dessen Heck abreißt. Das schert natürlich keinen und das Mofa ist verschwunden, bevor ich wieder atmen kann. Ich nehme meine Kamera auf den Schoß, um im Notfall wenigstens ein Foto vom Kennzeichen des Verursachers machen zu können und freue mich schon darauf, dass unser sorgsam gehüteter Leihwagen gleich auf den letzten Metern völlig zerschrammt und verbeult bei Europcar auftaucht. Unsere einzige Erklärung würde sein: Wir fuhren durch Paris.
Eine nervenaufreibende Dreiviertelstunde später sind wir am Bahnhof angekommen. Noch lebt das Auto, auch wenn ich nicht mehr weiß, wieso. Wie die Irren kurven wir ganze vier Mal um das Areal, bevor wir die mysteriöse Einfahrt zur Tiefgarage der Autoverleiher finden. Als wir die Schlüssel abgeben und ich sagen darf „no damage“, lache ich innerlich leise auf. Nicht einmal meine Fahrt durch Chicago Downtown mit Baustellen, Einbahnstraßen, Feuerwehrsirenen und Wolkenbruch war annähernd so gestört wie ganz Paris. Das war definitiv die schlimmste Stadt, in der ich je im Auto gesessen habe. Wem auch nur ein Funken an seinem Wagen liegt, sollte den gesamten Großraum komplett meiden. Oder sein Auto vorher in eine riesige Luftpolsterfolie wickeln, sich mit Dashcams ausstatten und das Vater Unser auswendig lernen.
Nach diesem Ritt bleibt uns noch ein letzter, erholsamer Tag in Paris, den wir mit der Metro und unseren Füßen begehen. (Deshalb habe ich gelogen, als ich „erholsam“ sagte). Die Sonne scheint immer noch unerbittlich und am Nachmittag tunke ich meine Beine in den Brunnen am Louvre. Der übrigens funktioniert. Abends haben wir einen Besuch auf dem Eiffelturm geplant. Mit fantastischen, reservierten Tickets. Hallelujah! Deshalb kommen wir auch sofort rein. Die Aussicht ist sehr schön mit Blick bis zum Triumphbogen und hinüber zu Sacre Coer. Als es dunkel wird, beginnt der ganze Turm zu strahlen. Zur vollen Stunde tanzen helle Lichtpunkte über das stählerne Gerüst. Unser Roadtrip durch die Normandie endet hier. Es waren zwei Wochen voller Gegensätze. Voller bunter Dörfer und verrücktem Großstadtchaos, schroffer Kreideklippen und malerischer Blumengärten, donnernder Wellen und prunkvollen Schlössern. Eine Landschaft zwischen Vergangenheit, ländlicher Idylle und tobender Moderne, die vor allem eines ist: eine verdammt geile Reise wert!
lonelyroadlover (Montag, 20 August 2018 18:15)
Dankeschön, liebe Magdalena!
Besonders freut mich, dass dir der Schreibstil gefällt - das bedeutet mir viel! :)
Was ist das denn bitte für ein tolles Geburtstagsgeschenk? Für eine Nacht nach Paris - wow!!
Oh mann, ich kann mir vorstellen, wie es gewesen sein muss. Da fragt man sich echt, wie ein Auto überleben kann... eigentlich völlig unmöglich!
Gott sei Dank, hat es bei uns beiden ja geklappt - aber ehrlich, nie wieder!!
LG
Sarah
Magdalena (Samstag, 11 August 2018 09:51)
Hallo Sarah,
was ein genialer Bericht - ich liebe deinen Schreibstil!!! Und das Verkehrschaos in Berlin habe ich vor wenigen Wochen genauso erlebt. Eine Freundin hat mich für ein Glas Wein für eine Nacht nach Paris entführt (was ein geiles Geburtstagsgeschenk) und wir sind auch mit dem Auto hin. Und rate mal? Perfekt zur Rushhour waren wir da :D Es war ein Fest und ich weiß auch immer noch nicht, warum wir und Jacques - das Auto - diesen Trip überlebt haben :D
Liebe Grüße
Magdalena