Sarah in the Sky with Mountain Lions – Wandern ohne Schilder, Karte und GPS.

26. Februar 2023

Wandern ohne Karte, GPS und Handy
Von hier an ohne Schild und GPS: Wandern nach Sonne und Wind

“Boah, das machen wir!“, rufe ich und fuchtele mit dem Zeigefinger Richtung Laptop, wo gerade der Abspann eines Online-Vortrags zum Navigieren in der Wildnis läuft. Schon immer habe ich mich gefragt, was passiert, wenn es keine Schilder gibt, der Handyakku stirbt, das GPS-Gerät in den Fluss fällt und die Faltkarte dorthin weht, wo Bob Dylans Antworten hinwehen: in den scheiß Wind.

Bisher war das relativ klar: Ich kacke ab.

Doch nach dem Wildnis-Vortrag bin ich voller Elan. Sonnenstand, Wind, Geräusche, Gerüche und Landmarken können sich im Kopf zu einem vollständigen Plan über das Gelände zusammenfügen. Hat die Wildnis-Professorin im Video gesagt. Ganz ohne Google Maps, ohne „Sie sind hier“-Pfeil, Schilder oder Karten.

 

Ein paar Tage später setzt mich mein Freund an einem kleinen Staubtrail in einem Tal aus und gibt mir die Aufgabe, ihn und das Auto nach einer Wanderrunde an derselben Stelle wiederzufinden. Währenddessen will er versuchen, herauszufinden, wie unser neu erworbener, fancy Kompass funktioniert, der mir verdächtig nach Raketenwissenschaft aussieht. Er hat Zahlen. Ich hasse Zahlen.

Also gehe ich los. Arglos. Wer hätte wissen können, dass ich ein paar Meilen später planlos durch einen Fluss stolpere, auf riesige Katzenspuren starre und ein besonders wegweisender Geruch mein eigener Angstschweiß ist.

Land gewinnen, Richtungen finden

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Die Bergspitze, die ich "die drei Schwestern" genannt habe

„Westen!“, brülle ich euphorisch in die Nachmittagssonne, die sich langsam dem Horizont zuneigt. Hätten wir das mit den Himmelsrichtungen schon mal geklärt. Der Wind kommt auch aus Westen. Praktisch. Brauche ich mir nicht so viel merken. Einzelne Geräusche sind wegen des Winds kaum zu hören. Es riecht nach Salbei-Büschen. Könnte daran liegen, dass sich vor mir drei Millionen Quadratmeilen Salbei-Büsche erstrecken. Landmarken gibt’s auch. Direkt vor mir eine braune Bergspitze, die aussieht wie eine Pyramide; etwas weiter rechts ein Berg mit einem überdimensionalen Legostein aus Basalt auf der Spitze und hinter mir drei schneebedeckte Gipfel, die ich „die drei Schwestern“ taufe.

 

Los geht’s. Ich stiefel durch eine Ebene Richtung Berghang. Wieder und wieder schaue ich zur Sonne rüber, die sich erstaunlicherweise immer noch im Westen befindet. Dann falle ich fast über einen Salbei-Busch. Der Trail biegt nach rechts ab, sodass der Basalt-Legostein jetzt direkt in meinem Sichtfeld liegt. Schnell schaue ich noch mal zur Sonne. Zur Sicherheit. Wenn ich in dem Tempo weitermache, seh ich bald den Mond.

Nach einer Weile wird der Pfad etwas unklarer. Aber ich hab ja meine Landmarken am Horizont und bin auch nicht in der Wüste Negev. Wird schon.

Flussquerung like a fool

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Der halb-vereiste und verschneite Fluss

Auf einmal kreuzt ein Fluss meinen Weg. Direkt dahinter ein einsamer Baum ohne Blätter, der weiß in der Sonne (aus Westen!) leuchtet. Ich hab zwar wasserfeste Schuhe an, doch der Fluss ist zum Teil mit einer dünnen Schicht aus Eis und Schnee überzogen. Man weiß also nicht wirklich, was darunter lauert. Ich pikse mit meinem Wanderstock in den Eiskristallen herum. Fühlt sich alles flach und stabil an. Ich mache einen Schritt nach vorne und wusch – stecke bis zum Knöchel in braunem Schneematsch.

Aus einem unerfindlichen Grund – Dummheit, Überheblichkeit oder Todessehnsucht – habe ich plötzlich das Bedürfnis, die abenteuerliche Flussquerung zu filmen. Also hantiere ich mit Stock und Handy herum, während ich mich durch Wasser und Eisschichten manövriere. Als ich gerade mit einem Fuß mitten im Wasser stecke, das versucht, von oben in meine Schuhe zu laufen, fällt mir beinahe erst das Handy und dann noch der Stock hin. Grandios. Ich kippe halb in einen Salbei-Busch auf der anderen Seite.

Danach packe ich das Handy unauffällig weg und mache mich aus dem Staub. Nicht, dass mich irgendjemand hätte sehen können, denn außer mir ist hier draußen niemand unterwegs.

 

Kurz darauf komme ich an einem komischen Ameisenhügel vorbei, in dem ein unnatürlich großes Loch klafft. Ob da jemand mit seinem Wanderstock rumgepikst hat? Ich war’s jedenfalls nicht, denn ich mag es nicht, Tiere zu stören.

Mit Blick auf Pyramidenberg und Legostein steige ich immer höher, bis ich nach unten schaue und im Schnee vor mir große Tatzenabdrücke sehe.

Berglöwen-Spuren im Schnee

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Große Tatzenspuren im Schnee - unheimlich!

Ich bin kein Feldbiologe, aber es besteht kein Zweifel, dass das Katze ist. Große Katze. Neben Bären, Wölfen und Coyoten gibt es hier auch Berglöwen. Während sich Bären oft durch laute Geräusche oder im Notfall durch Bear-Spray (eine Art Pfefferspray für die Wildnis) vertreiben lassen, verhalten sich Berglöwen wie echte Katzen: unberechenbar und möglicherweise in Spiellaune. Was bedeutet: Der Wanderer ist die Maus.

Ich bekomme Hitzeattacken. Die Spuren sind noch recht frisch. Um mich herum sind drei Millionen Quadratmeilen Salbei-Büsche. Der staubige Boden und die braunen Felsen sind idealer Tarn-Grund für le Berglöw. Jetzt höre ich neben dem Wind weitere Geräusche. Meinen Atem. Und mein Herz.

 

Ich überlege, umzukehren. Aber wie soll ich jemals allein in einer echten Wildnis, 200 Meilen von der nächsten Zivilisation, wandern, navigieren und überleben, wenn ich mir jetzt schon in die Hose mache und wegrenne. Ich blicke auf die Felsformation, die ich „die drei Schwestern“ genannt habe. Ich atme ein und aus. Scheiß auf den Löwen. Ich gehe jetzt weiter. Und wenn es nur ist, um mir selbst zu zeigen, dass es möglich ist, weiterzugehen.

 

Mit flauem Magen steige ich bis zu einer senkrechten Klippe am Pyramiden-Berg, die ich mir als Ziel für die heutige Wanderung ausgesucht habe. Dann setze ich mich.

War da unten im Tal nicht eine Bewegung? Etwas Großes und Braunes? Ich schaue Richtung Sonne, die langsam hinter den Bergen verschwindet. „Westen“, sage ich leise. Dann hole ich mein Handy raus und starte den Musik-Player. Die Beatles spielen. Lucy in the Sky with Diamonds. Ich fühle mich gleich besser und nicht mehr so allein. Auf einmal rufe ich: „Sarah in the Sky with Diamonds and Mountain Lions!“ und lache laut.

Natürlich keine Spur

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Yippie - ich hab den Weg zurück zu meinem Freund gefunden!

Als ich zurückwill, passiert etwas, das fast absehbar war: Durch das Fluss- und Berglöwen-Gedöne habe ich nicht mehr wirklich darauf geachtet, wo ich hingegangen bin. Der Trail ist weg. Nur noch Salbei-Büsche. Tolle Wurst. Weder die Sonne noch der Wind sind hilfreich. Ich könnte auf mein Handy schauen und schummeln, aber ich habe kein Signal für Google Maps und auf meiner Offline-Karte ist der Weg nicht eingezeichnet. „Sie sind hier“, sagt der GPS-Pfeil inmitten einer grünen Fläche aus Nichts. Ich packe das Handy weg, bevor es der Berglöwe fressen kann.

 

Ich latsche grob in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Anhand der Pyramide, des Legosteins und der „drei Schwestern“ kann ich immerhin sichergehen, dass ich nicht im Kreis laufe. Im Notfall muss ich mich halt durch die Salbei-Büsche quer zum Parkplatz schlagen. Als ich das gerade ernsthaft in Erwägung ziehe, sehe ich einen Ameisenhügel. Mit einem unnatürlich großen Loch. Ich raste aus! Noch nie habe ich mich so über einen Ameisenhügel gefreut! Kurz darauf sehe ich den einsamen, kahlen Baum. Ich laufe auf ihn zu und komme an den Fluss, den ich dieses Mal an einer schmaleren Stelle ohne Handy in der Hand überquere. „Hallelujah!“, schreie ich so laut, dass Leonard Cohen wahrscheinlich die Ohren abgefallen wären.

 

Als ich den Parkplatz und das Auto sehe, winkt mir mein Freund mit dem Kompass in der Hand zu. Er hat herausgefunden, wie das Scheißding funktioniert und will es mir sofort erklären.

Aber erstmal fragt er: „Und, wie war’s?“

Ich blicke zur Sonne, die inzwischen hinter den Bergen verschwunden ist. Westen, denke ich. Wilder Westen. Holy shit.

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